Ich summte einen Song im Radio mit und genoss einen arbeitsfreien Sommertag. Das Wetter war einfach zu einladend, und ich beschloss, ziellos über die Landstrassen zu fahren. Klimaschutz Ahoi! Die bunten Wiesen und grünen Wälder anschauen. Es mussten ja nicht immer Balkon und Grill sein. Als selbstständiger Handwerker war ich keinem Chef Rechenschaft schuldig und konnte mir meist „frei nehmen“, wann ich wollte.
Viele Jahre hatte ich in meinem Lehrberuf verbracht, bis mich der unwiderstehliche Drang nach Veränderung dazu brachte, mich als „Mädchen für alles“ selbstständig zu machen. Im Laufe der Zeit hatte ich ein kleines Netzwerk von Handwerksbetrieben und Endkunden aufgebaut. Für die Betriebe sprang ich ein, wenn es mal knapp mit der Belegschaft wurde und Baustellen in Verzug zu geraten drohten. Man konnte mir ohne weiteres ein paar Helfer zur Seite stellen, um als Vorarbeiter Aufträge zu erledigen. Ich konnte der Clown sein, der für gute Laune auf der Baustelle sorgte, aber auch der, der die Anderen mitzog und das Heft in die Hand nahm. Kurz gesagt, ich war immer der, der gerade gebraucht wurde, ob Handlanger oder Vorarbeiter.
Meine Endkunden zählte ich zu meinem engeren Bekanntenkreis, und erledigte kleinere Reparaturen, Gartenpflege, oder auch Besorgungsfahrten für sie.
Die ausgeleierte Sonnenblende klapperte leise vor sich hin, das kleine Loch im Auspuff antwortete mit einem stetigen Röhren (nicht allzu laut, aber doch hörbar), und im Motorraum klapperte ein loses Blech. Mein Auto war nun mal alt, und in die Werkstatt konnte ich auch morgen noch fahren. Zumindest hatte ich mir dieses Morgen seit einigen Monaten vorgenommen.
Die Luft war klar, und meine Haare wirbelten im Wind, der durch das offene Fenster auf der Beifahrerseite wehte. Ich zündete mir eine Zigarette an, schirmte die Flamme mit der Hand ab und schaute wieder nach vorne.
„Was zum..?“
Ich bremste scharf. Wo vorher noch Strasse, Felder, Wiesen und Wälder weithin sichtbar waren, begrenzte eine dichte Nebelwand meine Sicht auf wenige Meter. Ich konnte gerade noch den Strassenrand ausmachen, wo die in regelmässigen Abständen stehenden Leitpfosten nur noch als vage Umrisse zu sehen waren. Nebel? Ich hatte weit und breit keine Anzeichen für eine so dichte Nebelwand gesehen. Es hatte seit Tagen nicht geregnet, die Luft war trocken, es war warm. Nein, bei diesem Wetter konnte sich unmöglich Nebel bilden!
Vielleicht ein Kraftwerk in der Nähe? Oder ein Industriegebiet?
Nein. Nichts dergleichen befand sich in einer Reichweite, was diesen Nebel hätte erklären können.
Ich liess mein Auto am Strassenrand ausrollen, und stieg verunsichert aus. Wo vorher sommerliche dreissig Grad herrschten, verursachte eine frostige Kälte Gänsehaut auf meinem Körper. Mit um den Leib geschlungenen Armen sah ich mich um, ging einige Schritte, um vielleicht das Ende dieser seltsamen Nebelbank ausmachen zu können. Doch ich kehrte sehr schnell wieder zu meinem Fahrzeug zurück. Der Nebel war nicht nur eiskalt, sondern auch unheimlich, und die Gänsehaut auf meinem Rücken hatte nicht nur mit der Kälte zu tun. Eine leichte Panik schlich sich in mein Bewusstsein, und ich beeilte mich, wieder in den Wagen zu steigen. Ich kurbelte das Fenster hoch, startete den Motor und machte die Heizung an. Es war nicht mal eine Minute, die ich draussen herumgelaufen war, trotzdem war ich bis auf die Knochen durchgefroren.
„So was hab ich ja noch nie gesehen.“, murmelte ich zitternd, und drehte mich zur Rückbank, um meine leichte Sommerjacke anzuziehen. Statt auf meine Jacke schaute ich in ein bärtiges, schmutziges Gesicht mit flackernden Augen und verzerrtem Mund.
„Fahr! Fahr los, bitte!“, rief der Mann, dem das Gesicht gehörte.
Natürlich fuhr ich NICHT los, und schaute fassungslos auf die Gestalt, die da auf der Rückbank sass. Gehüllt in schmutzige Lumpen beschreibt am ehesten, was dieser Mann am Leibe trug. Ein Obdachloser? Schulterlanges, zerzaustes Haar fiel über den speckigen Kragen eines ehemals weissen Hemds.
„Los! Fahr los! Sie kommen!“, rief er diesmal, wesentlich lauter.
Das lange Messer, das hinter seinem Gürtel steckte, sah ich in dem Moment, als er es herauszog und unangenehm nah an meinen Hals hielt.
„Fahr! Jetzt! Los!“
Ich schluckte, schielte auf die Klinge, schaute wieder nach vorne, und legte den ersten Gang ein.
Langsam rollten wir durch den Nebel.
„Schneller! Fahr schneller!“
Es war kein Befehlston, der in seiner Stimme lag. Eher Angst.
„Ich kann kaum die Motorhaube sehen! Wenn ich schneller fahre…“
„FAHR SCHNELLER!“, brüllte mir der Fremde ins Ohr, und ich trat vor Schreck aufs Gaspedal. Der Wagen ruckte vorwärts. Ich legte einen höheren Gang ein und spürte, wie kalter Schweiss meinen Nacken hinunter lief.
„Ich kann nicht schneller fahren, sonst landen wir im Graben!“
„Egal, fahr einfach, fahr, als wäre der Teufel hinter uns her!“
Der Fremde zögerte einen Moment.
„Tatsächlich ist der Teufel hinter uns her.“
Ich hob eine Augenbraue und überlegte, ob in den Nachrichten ein entlaufener Verrückter erwähnt worden war. Oder ob es in der Nähe eine Psychiatrie gab. Nein. Die letzten Nachrichten im Radio hatte ich vor einer knappen halben Stunde gehört. Ausser dem üblichen Irrsinn, der sich in der Welt abspielte, gab es keine entsprechende Meldung.
„Was wollen Sie? Geld? Ich habe nicht viel dabei, aber Sie können…“
„Ich scheiss´ auf Dein Geld! Wenn die uns erwischen…“
Er schwieg.
„Wer sind die?“, fragte ich.
„Piraten!“
„Piraten?“
„Piraten!“
„Ok, äh… Ich werde jetzt ranfahren und dann…“
„NEIN! NICHT ANHALTEN!“
Er hielt das Messer näher an meinen Hals.
„Ok, ok!“, sagte ich. „Aber ich bin nicht scharf drauf, gegen einen Baum zu fahren und ich sehe nichts!“
„Glaub mir, gegen einen Baum fahren ist nicht so schlimm, wie von Graubein erwischt zu werden.“
„Von wem?“
„Ah, richtig. Graubein ist der Käptn. Ein Teufel. Sammelt Seelen, Männer für seine Crew.“
Ich konnte nicht verhindern, dass sich mein gedachtes „Ja nee, is klar!“ auf meinem Gesicht widerspiegelte.
„Du glaubst mir nicht, ja?“
„Naja… Es ist nicht ganz einfach zu glauben, was Sie da erzählen.“
„Du MUSST mir glauben, bitte! Was ist mit dem Nebel? Hältst Du den für normal?“
Ich musste gestehen, dass er damit recht hatte. Dieser Nebel war ganz eindeutig nicht normal.
„Ok, äh, Punkt für Sie. Aber wie geht´s jetzt weiter?“
„Wir müssen aus dem Nebel raus. Dann findet er uns nicht.“
„Aha. Wie weit müssen wir…“
„Ich weiss es nicht! Ich habe keine Ahnung! Ich war zu Fuss unterwegs, als die mich geschnappt haben. Die sind grausam!“
Er schwieg eine Weile.
„Und wie sind Sie denen entkommen?“, fragte ich, weniger aus Neugier. Die Stille bedrückte mich.
Er schnaubte. „Ha. Bin über Bord gesprungen, als die nicht aufgepasst haben.“
„Über Bord gesprungen?“ Unglauben lag in meiner Stimme.
Piraten. Teufel. Nebel. Ich würde gleich schwer atmend aufwachen und mich fragen, was für ein verrückter Traum das gewesen war.
„Wenn die uns kriegen, ist es aus. Ich hab gesehen, was die mit Neulingen wie mir machen. Die sperren einen in ´nen Käfig, lassen einen hungern und dursten, wochenlang. Dann zwingen sie einen, so ´n stinkendes Gebräu zu trinken, das sie Lavasse nennen. Das war´s dann, dann biste nicht mehr wie vorher, bist dann Teil der Besatzung.“
„Äh, Moment. In einem Käfig eingesperrt? Sie auch?“
„Ja. Jajaja, war auch in einem Käfig, haben mich raus geholt und dachten, ich wär zu schwach, hehe.“
Der Fremde lehnte sich nach vorne und der Geruch eines Menschen, der sich lange nicht gewaschen hat, stach mir in die Nase. Puh!
„Haben das Lavasse geholt, und gelacht haben die. Mich rumgeschubst. Bin immer weiter zur Reling gestolpert, haben sich die Bäuche gehalten vor Lachen. Hab einem von denen das Messer aus’m Gürtel gezogen, als er mich packen wollte. Dann bin ich gesprungen.“
„Also sind die hinter Ihnen her, nicht hinter mir, richtig?“
„Oh, nein, nein mein Freund. Die WISSEN, dass Du mir hilfst.“
„Äh, nein, Moment. Das ist NICHT freiwillig, was ich hier mache!“
„Is´ denen egal. Mitgefangen, mitgehangen, wie es so schön heisst.“
Ich hatte schon einige seltsame Geschichten gehört. „Ich schwör, genau so ist es passiert!“ Aber sowas? Wären nicht der Nebel und das Messer gewesen, hätte ich diesen Kerl längst aus meinen Auto geworfen. Er selbst schien felsenfest zu glauben, was er da erzählte.
Das Messer hatte sich wieder von meinem Hals entfernt, während der Fremde geredet hatte. Ein Plan reifte in mir. Ein ziemlich verrückter, aber einer, mit dem ich diesem Wahnsinn vielleicht entkommen konnte. Er baute darauf auf, dass ich in meiner Verwirrung vergessen hatte, mich anzuschnallen. Ich würde bremsen, die Tür aufreissen, springen und dann rennen, als wäre der Teufel hinter mir her.
„Was wissen Sie noch über diese… Piraten?“, fragte ich, um den Fremden abzulenken, und legte beiläufig meine linke Hand auf mein Bein. Ganz zufällig in die Nähe des Türgriffs.
„Ah, hm, leider nicht viel. Weiss nichts über deren Ziele oder Herkunft, oder was das für ein Gebräu…“
Ich trat auf die Bremse, riss die Tür auf und wollte springen, als der Wagen ruckartig nach vorne schoss, und ich unsanft wieder in den Fahrersitz geschleudert wurde. Die Tür knallte so heftig zu, dass die Scheibe zersplitterte.
„SIE SIND HIER!“, hörte ich den Fremden schreien.
Mit einem dumpfen Schlag landete ein Netz auf meinem Auto, das aus dicken Tauen geknüpft war. An den Rändern waren Haken befestigt, die sich unter dem Fahrzeug festkrallten. Wir kamen zum Stehen. Ich schloss die Augen und wollte nur noch aufwachen…
Leider wachte ich nicht auf, und öffnete meine Augen. Ich schaute hinaus in den Nebel. Etwas bewegte sich dort. Zwei Gestalten näherten sich meinem Auto. Die eine sehr drahtig, und die andere wie ein… Berg..?
„Oh Gott, es ist vorbei. Es ist vorbei, sie haben uns, sie…“ Der Fremde schluchzte und vergrub seinen Kopf in den Händen.
„Schau, schau, wen wir da haben.“, hörte ich eine krächzende Stimme durch das zerbrochene Fenster.
„Oi, is wohl unser Tony, höhö.“, sagte eine andere, näselnde Stimme.
„Jaaa, jaaa. Unser Mann über Bord. Hol ihn da raus!“, sagte die erste Stimme wieder.
„Oi, schau da, Bert. Da is noch´n Fisch im Netz.“
„Hmm. Tatsächlich. Naa, und wer magst Du wohl sein, Landratte, hmm?“
Ein hageres Gesicht mit einer schmalen, scharfkantigen Adlernase schaute mich mit stechenden Augen unter einer schmutzigen, grauen Bandana an. Angst und Unglauben hielten mich im Griff, mein Verstand konnte nicht verarbeiten, was hier gerade geschah.
„Oho, hoho, hast Deine Zunge verschluckt, was? Rotz, hol ihn mal da raus, der scheint zu müde zum Aufstehen zu sein.“
Der mit Rotz angesprochene Hühne antwortete mit einem simplen „Oi!“. Eine riesige Hand legte sich auf die Tür, wo die Scheibe zerbrochen war, und riss sie einfach mit einem lauten Krachen ab. „Oi! Komm mal raus, kleine Maus, höhö.“
Die Hand packte mich an der Schulter und zog mich aus dem Sitz. Der Mann, zu dem die Hand gehörte, war ein sprichwörtlicher Kleiderschrank. Zwei, nein, drei Köpfe grösser als ich, lange, struppige rote Haare, ein bis auf vereinzelte Büschel bartloses, vernarbtes Gesicht, und Schultern, die unmöglich durch eine normale Tür passen würden.
Tony riss die Tür auf und wollte Rotz mit dem Messer angreifen, das er noch immer in der Hand hielt.
„Oi!“
Mit einer Schnelligkeit, die ich ihm nicht zugetraut hätte, schlug der Riese seinem Angreifer das Messer aus der Hand. Tony schrie auf und hielt sich die Hand, während das Messer in hohem Bogen im Nebel verschwand.
Bert zog eine Augenbraue hoch und schüttelte den Kopf. Rotz schubste Tony gegen die offene Tür, die zuschlug und gleich darauf eine grosse Delle bekam, als Tony mit dem Rücken dagegenprallte.
„Nun denn“, krächzte Bert, während er den Kopf wieder zu mir drehte. „Da hast Du also unseren schiffbrüchigen Kameraden aufgesammelt, schön, schön.“
„I..I..Ich… Äh… Ich habe… Wollte…“
„Waaas wolltest Du, hmm?“
„Aaa… Euren Kameraden… Gerade zurückbringen, wollte ich, äh…“
„Aaah. Zurückbringen wollte er ihn, haste gehört, Rotz? Wollte unseren Tony hier wieder zurückbringen.“
„Oi, höhö.“
Ich lachte nervös. „Ja, wollte ich, ich meine, das, äh, gehört sich doch so..?“
„Jaaa, jaaa. Richtig, richtig, so gehört sich das. Und wie sprechen wir Tonys Retter denn an, hmm? Hat er einen Namen?“
„Sag ihn nicht!“, zischte Tony, bevor ihn Rotzens riesige Hand mit einer Ohrfeige ausser Sichtweite beförderte.
„Oi, Maul zu, Sprotte!“
„Hmm. Tony, Tony. Graubein wird Dir den Mund abreissen, wenn Du ihn nicht halten kannst. Also,“ sagte Bert, zu mir gewandt. „Wie heisst Du?“
„Äh…“
„Nein, nein nein, das ist kein richtiger Name, oder?“
Bert kam näher, seine Augen funkelten drohend. „Dein Name!“
„Harry!“, sagte ich schnell.
„Harrrry. Harry und Tony.“, spottete Bert, und lachte.
„Oi, höhö. Höhöhöhö.“
„Nun, Harrrry, ich bin sicher, dass Dir der Käptn persönlich seinen Dank aussprechen will für die…“, er zögerte kurz und fuhr dann fort: „Rettung unseres Kameraden.“, wobei er das Wort „Rettung“ besonders betonte.
„Oh, äh, ich… Also… Ich… Neinnein, gern geschehen, es braucht keinen Dank dafür, ich fahr mal lieber weiter, muss noch wohin, hab ´nen Termin und…“ Ich plapperte.
„Waaas denn? Eine Einladung für ein Treffen mit dem Käptn ablehnen? Das wäre sehr unhöflich, mein lieber Harry.“
„Ich, nein, äh, wirklich… Das ist sehr freundlich und ich will nicht unhöflich sein…“
„Na aaalso. Ich wusste doch, dass Du Dir das nicht entgehen lässt, Harry.“
„Bitte, nein, ich, äh, muss wirklich los. Bis dann.“
„Haaarrrry…“
Mein Fuss, den ich in Richtung meines Autos setzen wollte, gehorchte mir nicht. Stattdessen waren BEIDE Füsse der Meinung, es wäre eine gute Idee, sich weiter zu Bert umzudrehen. Hinter ihm schien der Nebel dichter zu sein, dunkler. Nein. Das war kein Nebel, das war…
Die Umrisse eines unmöglich riesigen Schiffs tauchten vor mir auf. Es kam näher, langsam näher, glitt an mir vorbei, und stoppte dann. Meine Füsse traten platschend ins Wasser – nicht das Schiff hatte sich bewegt, sondern ich. Ich war wie eine Marionette Bert gefolgt. Hinter mir ging Rotz, und mit einer seiner riesigen Hände trug er den ohnmächtigen Tony am Gürtel wie eine Reisetasche. Mein Blick fiel auf mein Auto. Wie würde ich der Versicherung die abgerissene Tür erklären? Und den Schaden am Heck?
„Mir ist ein Piratenschiff hinten reingeknallt, und ein rothaariger Riese hat die Tür abgerissen.“ Was hätte ich dafür gegeben, jetzt in dieser peinlichen Situation zu sein, anstatt hier.
Ich schaute an der Bordwand hoch, die irgendwo über mir im Nebel verschwand. Wie konnte in so grosses Schiff nicht einfach auseinander brechen? „Lauf!“, gab ich meinem Körper den Befehl. Aber mein Körper lief nicht. Im Gegenteil. Er bewegte sich nicht. Ein Fallreep wurde herabgelassen. Es war ein seltsames Gefühl, keine Kontrolle mehr über Arme und Beine zu haben. Ich war nicht in Trance, oder fühlte mich betäubt. Es war eher, als hätte ein fremder Wille von mir Besitz ergriffen.
Das Fallreep schaukelte leicht, breite Sprossen aus dunklem Holz waren an steife Taue geknotet.
„Aaalso, Du zuerst, Harry. Der Käptn erwartet Dich schon.“
Mit diesen Worten stiess Bert mich nach vorne, und ich begann zu klettern.
Die Sprossen schwangen hin und her. Ich befürchtete, gleich auf den glitschigen Sprossen abzurutschen und mich hilflos an einem der Taue festzuklammern. Höhenangst war etwas, das ich nicht kannte, aber das hier?
„Oi. Geht’s was schneller?“
„Naaa, er macht das wohl nicht jeden Tag, hehe.“
„Oi, höhöhö.“
Die Erfahrung, an einem Fallreep an einer Bordwand hochzuklettern, gehörte zu den Schlimmsten, die ich bis zu diesem Tag erlebt hatte. Ich wollte eine Pause machen und meine schmerzenden Hände ausruhen. Meine Beine ausschütteln, meinen Schultern ein wenig Ruhe gönnen. Ich versuchte es, ohne Erfolg. Mein Körper kletterte einfach weiter. Ich wollte gleichzeitig pausieren und weiterklettern. Nur wollte ich Letzteres offenbar mehr. Als ich mich endlich über die Reling schwang, gaben meine Arme nach und ich stürzte bäuchlings auf das Deck. Autsch! Ich hatte mich gerade umgedreht, als eine riesige Hand Tony über die Reling schwang, der daraufhin auf meinem Bauch landete und stöhnte. Ich stöhnte ebenfalls, weil mir ein Ellenbogen in den Magen drückte. Mit etwas Anstrengung gelang es mir, unter Tony hervorzukriechen. In diesem Moment schwang sich Rotz über die Reling, ich sah zwei gigantische (und sehr schmutzige!) Füsse auf mich zurasen, die im letzten Moment nach links und rechts auswichen und mit einem lauten Dröhnen neben meinen Ohren einschlugen.
Ich schwöre, dass das ganze Schiff unter dem Aufprall ächzte!
„Oi, höhö, haste ausgeschlafen?“, grinste Rotz mich an, packte mich am Kragen und stellte mich auf meine Füsse.
„Schlafen kannste später, höhö.“
Er begann also nicht jeden Satz mit „Oi!“.
Auch Bert hatte sich inzwischen über die Reling geschwungen und hieb Rotz einen Ellenbogen in die Seite.
„Nächstes Mal kletterst DU hinter mir, Du stinkst wie´n Fass ranziges Öl, in dem ´se verfaulten Fisch eingelegt haben.“
„Oi! Und Du stinkst nach… Nach… Höhöhö!“ Rotz packte Bert, nahm ihn in den Schwitzkasten und wollte ihm mit der Faust über den Kopf rubbeln. Ich weiss bis heute nicht, wie Bert es geschafft hat, aus diesem monströsen Arm zu entkommen. Er stand plötzlich vor Rotz, sprang an ihm hoch und gab ihm eine krachende Kopfnuss.
„Höhöhöhöhö!“
„Hehehe!“
Ich vermutete, dass das sowas wie ein High-Five zwischen den Beiden war, fand jedoch keine Zeit, um näher darüber nachzudenken.
„Aaalso, Harrry, wenn Du mir nun folgen würdest?“
„Ich, äh… Also… Wirklich, ich muss…“
„Neeein, musst Du nicht. Wenn Du musst, machst Du in ´nen Eimer. Aber jetzt kommst Du mit zum Käptn. Oder musst Du vorher?“
„Oi, höhöhö!“
Ich schluckte. „Nein. Nein, ich muss im Moment nicht.“, sagte ich einfältig.
„Aaach, Harrry, kein bisschen schlagfertig, hmmmm?“
Rotz schubste mich in Richtung des Schiffshecks, Bert ging voraus und ich stolperte hinter ihm her. Tony hing wieder wie eine Tragetasche an Rotzens Hand und strampelte.
„Oi! Willste selber laufen?“
„Ja!“
Rotz liess Tony los, der in einem wirren Haufen aus Armen und Beinen auf die Deckplanken fiel.
„Aua!“
„Höhöhö.“
„Rotz! Wir wollen Käptn Graubein nicht warten lassen, oooder?“
„Oi! Nein!“
Rotz half Tony auf die Beine und stiess ihn vorwärts.
Ich schaute mich um, während ich hinter Bert her ging. Am dunklen Himmel waren weder Sonne noch Mond zu sehen. Dennoch spiegelte sich eine unsichtbare Lichtquelle auf den Wellen, als wäre ein allgegenwärtiges, diffuses Licht um uns herum.
Ich konnte durch den Nebel Masten, Takelagen und Fässer ausmachen. Irgendwo über mir flatterten schemenhaft Segel im Wind, und einige Gestalten bewegten sich durch den Dunst. Sie waren menschlich, aber etwas war nicht richtig. Die Proportionen stimmten nicht. Arme und Beine waren zu lang oder zu kurz, Hälse zu lang, oder überhaupt nicht vorhanden. Einige dieser Gestalten schienen eine unmögliche Gelenkigkeit zu besitzen, während andere stocksteif umher staksten. Vor uns waren mehrere dieser Gestalten damit beschäftigt, Tauwerk aufzuwickeln. Als wir an ihnen vorbei gingen, konnte ich ihre Gesichter sehen. Ledrige Haut, ungepflegte und wilde Bärte, einige mit Glatze, andere mit Zopf, wieder andere mit einem Filz, in dem ich mir ohne weiteres ein Rattennest vorstellen konnte. Hände mit drei Fingern. Oder sieben. Oder neun. Beine ohne Knie. Oder mit zuvielen Knien. Einer dieser Unglücklichen hatte einen derart verdrehten Rumpf, dass seine Brust fast nach hinten wies.
Ich wollte mich übergeben, wollte wegrennen, oder mich in einem Fass verkriechen. Kalter Schweiss bedeckte meine Haut, meine Zunge schmeckte nach altem Putzlappen (ich nehme zumindest an, dass ein alter Putzlappen so schmeckt…), meine Hände zitterten und mein Herz schlug so schnell, dass ich fürchtete, es würde zerreissen.
Schliesslich blieb Bert vor einer Kabinentür stehen.
„Ihr wartet hier. Nicht weglaufen, hmmm? Tony? Hörst Du?“
„Ja. Ja.“
„Guuut. Rotz, schööön aufpassen, ja?“
„Oi!“
Es dauerte nicht lange, bis Bert wieder heraus kam.
„Sooo. Der Käptn wird Euch jetzt empfangen. Und Harrry?“
„Äh..?“
„Schööön artig sein, verstanden, Harrry?“
Ich hasste es, wie er meinen Namen aussprach, und hätte ihm dafür gerne einen Tritt gegeben. Aber ich war zu verängstigt, und so antwortete ich lediglich mit einem kleinlauten „Ja.“
„Guuut. Dann rein mit Euch!“
Mit diesen Worten schubste Rotz Tony und mich durch die Tür, die hinter uns laut ins Schloss fiel.
Kerzenlicht. Der Geruch von Räucherwerk, Alkohol und zu alten Stiefeln. Ich hasste Alkohol! Grosse Fenster blickten auf einen grauen Ozean und grauen Nebel. Vor wenigen Minuten war ich noch durch eine sommerliche Landschaft gefahren. Mir war schlecht, schwindelig, und mein Hemd klebte vom kalten Schweiss an meinem Körper. Ich fühlte mich krank. Tony erging es wohl nicht anders. Er stand neben mir, blass, seine Lippen bebten vor Angst, und Schweissperlen glänzten im Kerzenschein auf seiner Stirn.
„Tony!“, erklang eine herzliche Stimme.“ Was für eine Freude, Dich wieder bei uns zu haben.“ Überschwängliche Freude lag in dieser Stimme. Zu viel Freude, um echt zu sein.
„Wirklich. Wir haben Dich sehr vermisst, mein lieber Freund. Einfach über Bord zu springen, das ist… Tony, mein Freund, gefällt es Dir etwa nicht bei uns?“ Und ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr die Stimme fort: „Ah, und wen haben wir denn da. Ist das der Mann, der Dich…“ Wie Bert zuvor, zögerte auch diese Stimme kurz, „gerettet hat? Ja? Ist er das?“
Der Mann, der aus einer dunklen Ecke der Kabine auf uns zukam, entsprach jedem. Verdammten. Klischee. Eines Piratenkapitäns. Ein Dreispitz mit Feder, Augenklappe, wilder Bart, schmutziges Rüschenhemd, schwarzer Rock mit silbernen und goldenen Verzierungen auf der Vorderseite, und – natürlich – ein Holzbein. Was allerdings fehlte, war der Haken anstelle einer Hand. Oh, und ein Papagei sass auch nicht auf seiner Schulter. Also, nein, doch nicht jedes verdammte Klischee eines Piratenkapitäns.
„Bitte um Verzeihung, wo sind bloss meine Manieren, ha? Haha. Ich bin Kapitän Graubein. Herzlich willkommen auf meinem Schiff.“
Er ging zu einem grossen Tisch, auf dem Karten ausgebreitet und aufgerollt durcheinander lagen. Ein Stillleben aus Bechern, Linealen und Stiften ergänzte das Bild. Graubein stellte drei der Becher vor sich hin, und griff nach einem leeren Krug aus Steingut. Ich erwartete, dass er den Krug aus irgendeinem Fass füllen würde, aber nein! Eine goldbraune Flüssigkeit ergoss sich in die Becher. Ich schüttelte ungläubig den Kopf.
„Gefällt Dir dieser Trick?“, grinste Graubein. „Kommt. Kommt, meine Freunde, trinken wir. Auf das Wiedersehen, und auf die Rettung. Und auf den Retter, nicht wahr?“
Er drückte Tony und mir zwei der Becher in die Hand, nahm den Dritten, und prostete uns zu. „Trinkt, meine Freunde. Das Leben ist nur allzu kurz.“
Ob ich wollte oder nicht, ich trank einen grossen Schluck. Ein Feuer brach auf meiner Zunge aus, flüssiges Eisen rann meine Kehle hinab in meinen Magen, wo es anfing, meine Eingeweide zu kochen und ein Loch in meine Bauchdecke zu brennen. Ich hustete, beugte mich nach vorne und stützte mich mit einer Hand an einem der verzierten Holzbalken ab.
„Ja, ja. Feines Gebräu, ha? Haha, das ist richtig guter Rum, mein Lieber. Noch einen Schluck?“
„Danke. Nein.“, keuchte ich, und widerstand knapp dem Drang, meine brennende Zunge herauszureissen.
„Oh. Gut, dann nicht.“
Die Stimme des Käptn’s verlor die übertriebene Überschwänglichkeit und wurde kalt.
„Jetzt“, sagte er, während er sich auf einen Stuhl setzte, „jetzt zu den ernsten Angelegenheiten.“
Er schaute Tony an.
„Du hast wirklich geglaubt, dass Du von diesem Schiff entkommen kannst? Hast gedacht, Du könntest mich, Käptn Graubein, einfach so austricksen und vor meiner Mannschaft lächerlich machen, ja? Warst der Meinung, ich finde Dich nicht. Oh, siehst Du, wie Du Dich geirrt hast, ja?“
Tony schwieg und fand irgendetwas an den Bodenbrettern überaus interessant.
„Tony. Sieh mich an!“
Der Kopf meines Leidensgenossen schnappte hoch, die Augen weit aufgerissen.
„Glaubst Du, vor Dir hätte noch niemand versucht, mir zu entkommen? Ja? Falsch! Jeder Einzelne von denen, die über Bord gesprungen, oder an einem Tau herabgeklettert sind, oder sich mit einem Fass im Arm ins Meer gestürzt haben, jeder Einzelne ist am Ende wieder hier gelandet. In dieser Kajüte. Bei mir.“ Er knallte seinen Becher auf den Tisch, und betrachtete dann seine schmutzigen Fingernägel.
„Weisst Du, ich bin ganz froh, dass Du versucht hast, zu flüchten. Jetzt kann ich den neuen Kameraden gleich zeigen, was passiert, wenn man versucht, mich zu hintergehen.“
Graubein schwieg eine Weile, und liess seine Worte wirken. Tony begann, am ganzen Körper zu zittern, und mit schwacher Stimme fragte er: „Warum lässt Du mich nicht gehen, ich habe nichts getan, ich… Ich… Ich wollte doch…“
„Was?“, unterbrach ihn der Käptn. „Was wolltest Du? Mir ist egal, was Du wolltest, oder was Du willst. Du bist jetzt auf meinem Schiff, und was Du willst, ist mir egal, hörst Du? Es ist mir egal! Ich werde Dich bestrafen, ein Exempel statuieren, zeigen, was passiert, wenn man mich hintergeht! Bert! Rotz! Schafft diesen Abschaum Tony aus meiner Kajüte!“
Die Tür flog auf, Rotzens riesige Hände packten den bebenden und wimmernden Tony, und zerrten ihn fort. Ich hatte kaum Zeit, zu registrieren, was passierte, als die Tür schon wieder zufiel.
Graubein stand auf und sah mich an.
„Und jetzt zu Dir. Harry, eh? Harry und Tony.“ Seine Stimme war nach dem Ausbruch von eben wieder ruhig geworden. Zu ruhig, wie ich fand.
„Also, was hat Tony Dir über mich und mein Schiff erzählt, he?“
„Ähm, na ja, nicht viel, nur, äh…“
„Nur? Was, nur?“ Seine Worte schnitten durch meine Gedanken wie ein scharfes, eiskaltes Messer. War es sein Wille, der mir aufgezwungen wurde?
„Er sprach von Käfigen, und einem…. Einem… Einem Gebräu…?“
„Ja? Was noch?“
„Nicht viel mehr. Er meinte, dass der Teufel hinter ihm her sei“, antwortete ich schwach.
Graubein lachte laut. „Ha! Haha! Der Teufel, he? Haha, das ist gut, das ist gut. Aber nein, ich bin nicht der Teufel, ich bin nur Graubein. Käptn Graubein. Und Du“, sagte er lauernd, „Du wirst die Stelle von Tony einnehmen. Das Schiff braucht seine Crew, weisst Du.“
„Nein. Nein nein nein!“
„Dooooch.“ Während er sprach, war näher gekommen, und sein Gesicht befand sich nun sehr nah an meinem eigenen.
„Doch, mein lieber Harry, das Schiff braucht seine Crew, und Tony steht nicht mehr zur Verfügung. Männer sterben nunmal, im Kampf, oder sie stürzen vom Mast, oder Rotz hat ein wenig“ Er grinste, während er die nächsten Worte sprach. „Ein wenig zu viel Spass mit ihnen.“
Ich protestierte, hob abwehrend die Hände, ging rückwärts zur Tür und versuchte, sie aufzureissen, doch sie blieb verschlossen.
„Ah. Diese Tür öffnet sich nur, wenn ich es will. Und da Du Tony gerettet hast, lasse ich Dir sogar die Wahl, wer Dich zu Deiner neuen Unterkunft begleiten soll. Bert oder Rotz, wer soll es sein, hmm?“
Ich geriet in Panik, schlug meine Fäuste gegen die Tür, diese verdammte Tür, die nicht aufging, während Graubein näher kam.
„Ich kann Dir die Entscheidung auch gerne abnehmen, ja?“
Graubeins Gesicht verschwamm, meine Beine gaben nach, und die letzten Worte, die ich hörte, waren: „Oh, was denn. So schnell gibst Du auf? Rotz! Bring unseren Neuzugang doch bitte an Deck, ja?“
Dann wurde es dunkel.
Ich trieb in der Dunkelheit in eiskaltem Wasser. Es rauschte in meinen Ohren, und ich konnte nicht atmen. Aber ich musste atmen! Ich würde ertrinken, wenn ich atmete. Nein, ich musste nach oben. Nach oben! Wo war oben? Ich war orientierungslos, mein Brustkorb verkrampfte sich, pumpte, während ich verzweifelt meine Luftröhre verschlossen hielt. Das Wasser um mich herum bot keinen Widerstand, als ich versuchte, zu schwimmen, und ich riss die Augen auf. Ich sah Rotz, der mir gerade einen Eimer Wasser ins Gesicht kippte, und verschluckte mich, als ich endlich einatmete. Hustend drehte ich mich um, auf Händen und Knien, keuchend, während salziges Wasser aus meinem Mund quoll.
Die bizarren Gestalten, die die Crew stellten, standen um mich herum. Sie lachten und johlten, fremdartige Laute, kreischend und krächzend, die meine Ohren malträtierten.
„Oi! Dritter Eimer Wasser. Der schläft wirklich tief, höhöhö.“
Er packte mich am Kragen, und stellte mich auf die Füsse.
Graubein ging grinsend auf mich zu.
„Harry. Schön, dass es Dir wieder gut geht, ich hatte schon Angst, dass wir Dich auf eine Planke genagelt über Bord werfen müssen.“
Er lachte, und die Umstehenden gröhlten.
„Aber gut. Gut, dass Du wach bist, und gerade rechtzeitig für unser kleines… Schauspiel, hehe.“
Wieder gröhlten die Männer. Waren das überhaupt Männer? Verdrehte Kreaturen, verzerrte Fratzen im Nebel.
Graubein stellte sich neben mich, und legte seinen Unterarm auf meine Schulter.
„Heute werden wir ein wenig für das Schiff sorgen. Tony hat sich durch sein Verhalten nicht gerade viele Freunde gemacht bei uns, weisst Du. Und damit er nicht wieder auf dumme Gedanken kommt, werde ich ihm jetzt die Möglichkeit für weitere Dummheiten wegnehmen. Nicht wahr, meine Freunde?“
Johlende Zustimmung und Gelächter.
„Ja. Ja, beruhigt Euch, ihr Halsabschneider. Bert. Bring doch bitte unseren lieben Tony zum Maul des Schiffes. Und Rotz, Du sorgst dafür, dass unsere Crewanwärter eine gute Sicht haben, ja?“
„Oi! Käptn!“
Rotz scheuchte einige der Kreaturen zu einem grossen Holzgitter, das im Deck eingelassen war. Taue wurden an eiserne Ringen geknotet, die an diesem Gitter befestigt waren, ein Flaschenzug wurde herabgelassen, und das Gitter entfernt. Nacheinander wurden mehrere Käfige aus dem Schiffsbauch auf Deck gezogen. Männer waren darin eingesperrt, verängstigt, schmutzig, einige ausgemergelt und von Hunger gezeichnet.
Währenddessen hatte Bert den zitternden Tony herbeigezerrt, der mir einen verzweifelten Blick zuwarf.
„Es tut mir leid, dass ich Dich da mit reingezogen habe. Es tut mir leid!“
„Tony, Tony, ist das nicht ein bisschen spät, hmmm?“, erwiderte Bert.
Graubein nahm seinen Arm von meiner Schulter und drückte eine Hand in meinen Rücken.
„Komm. Lass mich Dir zeigen, was passiert, wenn sich jemand nicht an meine Regeln, und die Regeln meines Schiffes hält.“
Er schob mich vorwärts, an den Käfigen vorbei. Vor uns stand ein grosses Etwas, das von einem verzurrten Segeltuch verhüllt war.
„Rotz! Rotz, warum ist das noch nicht enthüllt, ha?“
„Oi! Sofort, Käptn! Sofort!“
Rotz beeilte sich, das Segeltuch loszubinden. Er zog daran und enthüllte ein Podest, auf dem ein reich verzierter, ovaler, und mehr als mannshoher Holzrahmen stand. Es hätte ein Spiegel sein können, doch statt des Spiegelglases war eine dicke Holzplatte in den Rahmen eingelassen. Seltsame Runen und Schriftzeichen waren darauf eingeritzt.
Graubein wandte sich an die Gefangenen, die apathisch in den engen Käfigen kauerten.
„Nun, ich weiss, dass einige von Euch das Bedürfnis haben, über ihre Flucht von diesem Schiff nachzudenken. Das ist in Ordnung. Was immer Euch schlafen und wachen lässt. Doch Ihr solltet wissen, dass noch niemand von hier entkommen ist. Nicht von meinem Schiff. Jeden, der es versucht hat, haben wir wieder eingefangen. Das hier“, sagte er, und deutete auf das grosse Oval, „das hier zeige ich Euch, damit nachher niemand sagen kann, er hätte von nichts gewusst.“
Der Käptn schaute den sich in Berts brutalem Griff windenden Tony an, und ging langsam auf ihn zu.
„Tony hier, das muss ich gestehen, war sich der Konsequenzen seines Tuns nicht bewusst. Aber das ändert nichts daran, dass das Schiff genährt werden muss.“
Die Gefangenen stierten weiterhin teilnahmslos ins Leere. Tony jedoch riss die Augen noch weiter auf.
„Nein! NEIN!“, schrie er, und versuchte verzweifelt, sich von Bert zu befreien.
„Tony, halt stiihiiill. Du willst doch nicht mit gebrochenen Armen und… Richtigen Nägeln an das Maul des Schiffs genagelt werden, hmmmm?“
Ich sah, wie Tony zerbrach. Er sackte zusammnen und liess schluchzend den Kopf hängen.
„Na also, so ist es gut, Tony“, grinste ihm Bert ins Ohr, und leckte seine Wange ab.
Ich verzog das Gesicht. Ich fühlte, wie Zorn in mir aufstieg und einen Teil meiner Angst verdrängte. „Du widerliches Schwein!“, schrie ich Bert an.
Er drehte langsam den Kopf zu mir. „Aaahh, ein Angebot für eine ganz spezielle Freundschaft, jaaa? Die nehme ich gerne an, Harrry.“ Er grinste.
Graubein legte wieder seinen Unterarm auf meine Schulter.
„Das Schiff“, begann er, „das Schiff ist sehr alt. Es braucht eine Crew, und es braucht Reparaturen. Allerdings entscheidet das Schiff selbst, was repariert werden muss, es duldet nicht, dass die Crew das tut. Und anstatt Holz, oder Segeltuch, verlangt das Schiff Seelen. Und Fleisch.“
„Ach du Scheisse.“, entfuhr es mir.
„Ja ja, ach du Scheisse, Harry, ganz recht“, sagte Graubein zu mir. „Tony wird also leider kein Mitglied der Crew werden, aber zum Glück hat er uns grosszügerweise einen Ersatz für sich gebracht.“
Er nahm seinen Arm wieder von meiner Schulter, nur um seine Hand daraufzulegen.
„Das hier, das ist Harry. Er wird an Tonys Stelle zur Crew gehören.“
Die umstehenden Männer nickten einander zu.
„Nein!“, sagte ich, und ging einen Schritt zur Seite, sodass Graubeins Hand von meiner Schulter fiel. Langsam gewann ich meine Fassung zurück.
Er schaute mich mit gespielter Überraschung an.
„Was? Nein? Aber warum nicht? Schau Dich doch um. Ein so wunderbares Schiff, und so liebenswerte Kameraden, was willst Du mehr, ha?“
Gelächter.
Ich nahm all meinen Mut zusammen und sagte: „Ich werde hier nicht mitmachen. Ihr könnt mich nicht zwingen!“
„Oh“, machte Graubein. „Oh. Nein? Können wir nicht?“
„Nein!“
„Ich glaube aber, lieber Harry, dass wir das doch können. Rotz!“
Der Hühne stapfte auf mich zu und packte mich, hob mich hoch, und warf mich in einen leeren Käfig.
„Lasst mich hier raus, verdammt!“, schrie ich. Leider war die einzige Reaktion auf meinen Protest weiteres lautes und spöttisches Gelächter.
Nach einiger Zeit klatschte Graubein wieder in die Hände.
„Genug! Genug gelacht. Bert, sei doch so gut, ja?“
Bert stiess Tony auf das Podest und gegen das Oval. Dann packte er seine Arme, streckte sie seitlich aus, und Rotz trieb mit einem grossen Hammer eiserne Klammern in das Holz, die Tonys Arme und Beine fixierten. Dann traten die Beiden zurück, stiegen von dem Podest und stellten sich rechts und links von Graubein auf, der anfing, einen leisen Singsang zu murmeln.
Ich verstand nicht viel von dem, was er da sang. Der Name des Schiffes schien Ramanuja zu lauten, Ramanuja, die sich mit irgendetwas heilen sollte, und irgendwas mit Nebel.
„Hah! Nein!“, schrie Tony.
Zu meinem Entsetzen sah ich, wie sich der Körper meines Leidensgenossen langsam auflöste, verflüssigte, und in das Holz sickerte, an das er geklammert war. Seine panischen Augen fanden meine, und seine letzten Worte richtete er an mich. „Es tut mir leid, Harry!“
Die schmutzige Kleidung, die er getragen hatte, fiel zu Boden. Rotz trat wieder auf das Podest, riss mit blossen Händen, genauer gesagt, mit EINER Hand, die Klammern aus dem Holz. Dann sammelte er Tonys Kleidung ein und warf sie über Bord. Einige der Männer zogen das Segeltuch wieder über das Oval und zurrten es fest.
Ein leichtes Zittern lief durch das Schiff. Die Masten vibrierten. Ich schaute mich um, sah meine Mitgefangenen, die teilnahmslos ins Leere starrten.
„Hey“, sprach ich den Mann an, der in dem Käfig neben mir kauerte. Er reagierte nicht, und stierte vor sich hin.
Graubein ermahnte uns, nicht zu vergessen, was wir heute gesehen hatten. Es würde jedem so ergehen, der sich nicht an die Regeln hielt. Ich bezweifelte, dass irgendeine dieser traurigen Gestalten etwas versuchen würde.
Wir wurden in den Schiffsbauch herab gelassen, was mit viel Gelächter begleitet wurde. Es stank hier unten!
Schliesslich fiel das Holzgitter über uns in Position und es wurde still an Deck. Wellen schlugen platschend gegen den Rumpf. Ich war erschöpft, verängstigt und hoffnungslos. So wiegte mich das Schiff in einen unruhigen Schlaf.
Der Käfig, in dem ich steckte, war zu klein, um mich auszustrecken. Ohne Sonnenlicht, abgestandene, säuerliche Luft atmend, bekamen die Begriffe Schmerz, Leid und Verzweiflung eine neue Bedeutung. Hatte vorher ein Schlag mit dem Hammer auf den Fingernagel Schmerz verursacht, kam mir dieses Gefühl jetzt wie eine Lappalie vor. Das, was ich vorher Leid und Verzweiflung genannt hatte, wären mir jetzt herzlich willkommen gewesen, hätte ich sie gegen diesen Käfig eintauschen können.
Mein Körper fühlte sich an wie ein einziger blauer Fleck. Meine Gelenke waren steif, die Muskeln verkrampft, und ich hatte wenig Hoffnung, hier wieder herauszukommen.
Warum war ich hier hineingeraten? Meine Welt war bis zu jenem Tag in Ordnung gewesen. Es gab keine Geister, keine unheimlichen Schiffe im Nebel und auch keinen Klischeepiraten, der mich in einen Käfig werfen liess. So sehr ich mir auch wünschte, dass dies ein Traum sei, so wenig ich wahrhaben wollte, dass dies alles wirklich geschah, das hier war meine neue Realität. Gefangen in Dunkelheit und Kälte. Was hätte ich nicht alles für eine Zigarette gegeben.
Hunger und Durst quälten mich, wir bekamen nichts zu essen und nichts zu trinken. Durch das Gitter über mir sprühte eiskaltes Salzwasser, das auf meiner Haut brannte. Mein Schlaf, wenn er überhaupt kam, war unruhig und wenig erholsam. Durchsetzt mit Träumen von Kälte, Schmerz und Angst. Es ist erstaunlich, wie sehr man diesen kurzen Moment des Aufwachens geniessen kann, wenn der Albdruck eines schlimmen Traums gerade abklingt, und die körperliche Wahrnehmung noch nicht eingesetzt hat.
Auch der Begriff Zeit bekam eine neue Bedeutung. Tag und Nacht waren verschwunden. Ich hatte keinen Anhaltspunkt mehr, ob die Zeit verging oder stillstand. Alles verschwamm in einem Nebel, und ich wusste oft nicht, ob ich schlief oder wachte.
Wie lange war ich schon hier? Stunden? Jahre? Fragen ohne Antworten.
So trieb ich in der Dunkelheit, abwechselnd sitzend, halb liegend, hockend oder knieend, frierend und hungrig und durstig nach Atem ringend, auf eine der seltenen Brisen hoffend, die sich ab und zu durch das Gitter verirrten.
Besonders schlimm war es, wenn die Stille vom Lärm des sich öffnenden Gitters zerrissen wurde. Dann wurde ein dickes Tau mit einem schweren Haken herabgeworfen und schlug laut krachend auf den Planken auf. Eine der Kreaturen, die die Mannschaft stellten, kletterte an dem Tau zu uns herunter und lief über die Käfige, deren Metallstäbe laut schepperten. Es half nicht viel, die Hände auf die Ohren zu pressen. Der Haken wurde mit einem lauten Schlag in eine der Ösen geschwungen, die an den Käfigen befestigt waren. Und einer meiner Mitgefangenen wurde in seinem Verhau nach oben auf das Deck gehievt.
Kurz darauf drang ein Sprechgesang zu uns, leise zunächst, dann immer lauter und schliesslich mit einem lauten „RAMANUJA“ verstummend. Die verzweifelten Schreie des Unglücklichen brachen zum Glück sehr schnell ab, und ein leerer Käfig wurde unsanft und lautstark herabgelassen. Dann war es wieder still. Eine Stille, in der diese furchtbaren Geräusche wie ein Echo noch lange in meinem Kopf nachhallten.
Dann dauerte es nicht lange, bis ein neuer Gefangener in den leeren Käfig gesteckt wurde. Einige waren menschlich. Andere exotisch. Mit vier Armen. Oder mit Fell. Einmal liessen sie ein krabbenartiges Wesen im Käfig herab, das hektische Klicklaute von sich gab. Sie alle fielen nach kurzer Zeit in die gleiche Apathie wie die Anderen. Nur ich schien davon nicht betroffen zu sein, und ich fragte mich, warum. War das eine zusätzliche Bestrafung für etwas, das ich getan hatte und von dem ich nicht wusste, was es war? Verdammt dazu, bewusst diese quälende Zeit zu erleben, anstatt in trübem Dahindämmern zu vegetieren? Ich wünschte mir, in die gleiche Teilnahmslosigkeit versinken zu dürfen, in süsse Ohnmacht und meiner quälenden Situation nicht mehr gewahr.
Manchmal, wenn die Käfige mit einem neuen Gefangenen in meiner Nähe standen, unterhielten wir uns kurz. Ich erfuhr einige der Schicksale, die diese Wesen hierhergeführt hatten. Sie erzählten mir von fremden Welten und Kulturen, seltsamen Technologien, die an Magie zu grenzen schienen. Und alle berichteten von dem seltsamen Nebel, der plötzlich auftauchte. Von Bert und Rotz, die sie gefangen nahmen. Nicht alle wurden dem Käptn vorgeführt, die meisten wurden kurzerhand in einen Käfig gesteckt und unter Deck verfrachtet. Sie stellten mir viele Fragen, die ich nicht beantworten konnte. Am Anfang erzählte ich noch von dem Ritual am Maul des Schiffs. Doch das verängstigte meine Leidensgenossen nur noch mehr, und ich beschloss, es nicht mehr zu erwähnen. Noch während wir sprachen wurden meine Mitgefangenen immer stiller, teilnahmsloser, bis sie ganz verstummten und mit leerem Blick in ihrem Käfig hockten. Dennoch war ich dankbar für die seltenen und wenigen Worte, die ich mit ihnen wechseln konnte.
Das Schiff bewegte sich also zwischen den Welten und sammelte dort Wesen für die Mannschaft ein. Machte das die Gefangenen zu Ausserirdischen? War der Ozean, auf dem das Schiff fuhr, eine Art Hyperraum? War ich demnach auf einer kosmischen Reise einer Art, die allen physikalischen Gesetzen widersprach, die die Menschheit kannte? Und wenn diese Wesen von fremden Welten kamen, wie konnte ich dann ihre Sprache verstehen? Fragen. Noch mehr Fragen ohne Antworten.
„Harry!“
Ich riss die Augen auf und schaute verwirrt umher. Jemand hatte meinen Namen gesagt. Ein neuer Gefangener? Nein. Woher sollte er meinen Namen kennen?
„Hallo?“, antwortete ich leise.
„Hier unten.“
Die Stimme klang seltsam, ein knarzendes Flüstern, als ob jemand vorsichtig auf einer alten Holzstiege lief. Ich schaute auf den Boden, konnte aber in der Dunkelheit zunächst nichts erkennen. Das musste ein Traum sein. Oder auch nicht. Die Seltsamkeiten nahmen kein Ende, und ich wunderte mich nicht mehr.
„Harry, ich bins, Tony.“
„Was?“ Meine Augen versuchten, die Dunkelheit zu durchdringen. Ich kniete mich hin, stützte mich auf meine Ellenbogen und starrte auf die Planken, die ich schwach durch die Gitterstäbe am Käfigboden sehen konnte. Dort bewegte sich etwas.
„Tony? Ist das ein Traum?“
„Nein.“
Auf dem Holz zeichnete sich undeutlich ein Gesicht ab.
„Wie…?“, stammelte ich verwirrt.
„Ich hab nicht viel Zeit, Harry. Das hier kostet viel Kraft, also hör mir zu. Ich weiss, wie Du hier rauskommst!“
War das möglich? Ich drehte meinen Kopf, so dass mein Ohr näher an Tonys vermeintlichem Gesicht kam.
„Und wie?“
„Du musst Graubein töten!“
Ich seufzte.
„Ist das alles?“
„Er und das Schiff sind aufeinander angewiesen. Das Schiff kann ohne Käptn nicht existieren. Wenn Du ihn tötest, sind wir wieder frei!“
„Woher weisst Du das?“
„Ich weiss es nicht genau. Ramanuja spricht zu mir, leise, und in Rätseln. Ich kann es Dir nicht erkären. Ich weiss nur, dass Du Graubein töten musst!“
„Das Schiff spricht zu Dir?“
„Ja. Ich meine, nein. Nicht das Schiff. Ramanuja ist… Sie ist das Schiff, aber sie ist auch etwas anderes. Ich weiss es nicht, ich verstehe es nicht. Ich kann nur wiederholen, was ich da heraushöre.“
Gerade, als ich dachte, es könnte nicht noch verrückter werden, erschien Tony, den ich hatte sterben sehen. Aber offenbar war er nicht gestorben. Er war zurückgekehrt, um mir zu sagen, dass Ramanuja nicht nur das Schiff sei. Und dass ich Graubein töten müsse.
„Tony. Nichts würde ich lieber tun, aber da ist ein winziges Problem. Ich hocke in einem Käfig, ich kann mich kaum bewegen, an Deck laufen jede Menge komische Gestalten rum, und als wäre das nicht genug, sind da auch noch Bert und Rotz! Und selbst wenn ich durch Zauberei zu Graubein gelangen würde – ist Dir aufgefallen, dass ich keine Waffe habe, er jedoch mit Pistolen und Degen über das Deck stolziert?“
„Jaja, ich weiss. Du brauchst den Schlüssel für die Käfige. Bert hat ihn, Du musst ihn irgendwie dazu bringen, hier runterzukommen und ihm den Schlüssel abnehmen.“
Ich seufzte. „Hat Dir das auch diese Stimme geflüstert?“
„Nein. Ich habe gesehen, wie er ihn von seinem Gürtel abgemacht und Käfige aufgeschlossen hat.“
„Ohne Augen?“
„Harry, ich kann es nicht erklären!“
Ich schüttelte den Kopf.
„Das ist nicht sehr durchdacht, Tony. Wie soll ich Bert denn hier runter locken?“
„Du könntest schreien.“
„Und dann? Wie komme ich an den Schlüssel? Falls es überhaupt jemanden interessiert, wenn ich hier schreie.“
„Ich kann Dir dabei nicht helfen, Harry. Ich bin ein Teil des Schiffs. Zwar noch nicht so richtig, aber ich werde immer mehr dazu. Am Anfang war es leichter, mich durch das Schiff zu bewegen, jetzt wird es immer schwieriger. Ich weiss nicht, wie lange ich das noch kann. Ich werde immer weniger, Harry. Ich verliere mich. Ich werde immer mehr zum Schiff. Nur Du kannst etwas unternehmen!“
„Warum gerade ich? Warum sagst Du mir das, und nicht einem der anderen Gefangenen?“
„Weil…“ Tony ächzte. „Schau sie Dir doch an. Keiner von denen ist noch ganz bei sich. Du bist klar. Ich verstehe nicht, warum. Aber keiner von den Anderen würde auch nur bemerken, dass ich zu ihm spreche!“
Ich seufzte erneut. „Tony, ich kann das nicht. Ich bin am Ende, ich habe keine Kraft, schau mich doch an!“
„He!“ Eine Stimme rief durch das Gitter. Bert! „Führste Selbstgespräche da unten, Harrry? Schön leise, jaa? Sonst kippen wir Dir ’nen Eimer Fischgräten auf den Kopf, hehe.“
„Oi! Höhöhö!“
Ich schaute nach oben.
„Harry!“, flüsterte Tony. „Harry, Du kannst Dir aussuchen, entweder hier zu vermodern und als entstellte Crewleiche zu enden, oder bei dem Versuch sterben, hier rauszukommen!“
Dann war er weg. Und er hatte recht. Ich konnte mich meinem Schicksal ergeben und darauf warten, zu einer dieser seltsamen Gestalten zu werden, oder zu kämpfen. Was hatte ich zu verlieren? So oder so erwartete mich kein sonnenbeschienener Palmenstrand. Ich lehnte meinen Rücken gegen die Gitterstäbe und hob den Kopf.
„He! Bert! Warum kommst Du nicht runter
und sagst mir das, während Du mir in die Augen schaust?“
„Bah. Ich krieche doch nicht in das stinkende Loch da unten, neeee. Aber ich schick Dir was, warte, Harrry. Nich weggehn, hörst Du?“
„Höhöhö!“
Kurz darauf prasselten Fischgräten, vergammelte Innereien und anderer, stinkender Unrat auf mich herab. Bert und Rotz lachten, verspotteten mich, und dann war es wieder still.
Grossartig. Zu Dunkelheit, Kälte, Enge, und dem ohnehin schon sehr strengen Geruch, gesellte sich jetzt noch der Gestank von faulem Fisch. Und die verzweifelte Versuchung, mit diesem Unrat zumindest einen kleinen Teil von Hunger und Durst zu stillen. Dem zu widerstehen, kostete sehr viel Kraft.
Es blieb nicht bei dieser einen Bestrafung. Es blieb auch nicht bei Eimern voller Unrat, die über mir ausgekippt wurden. Oft wurde auch einer aus der Besatzung herabgelassen, um mich mit einem Stock zu quälen. Stochern und schlagen verursachten blaue Flecken und Prellungen, einige Platzwunden und Beulen, die jedoch erstaunlich schnell wieder verheilten. Ich provozierte Bert, wann immer ich die Kraft dazu fand.
Mein Plan war – nun, irgendwann einen Plan zu haben. Jahre der Selbstständigkeit hatten mich gelehrt, nicht nur Möglichkeiten zu nutzen, sondern auch zu schaffen, wenn sich keine boten. Mir war klar, dass ich hier mit dem Feuer spielte und mein Verhalten sehr schnell nach hinten losgehen konnte. Aber was hatte ich zu verlieren? Die Aussicht, ein Teil der Mannschaft oder gar des Schiffs zu werden, erschien mir schlimmer, als über Bord geworfen oder bestraft zu werden.
Ich musste entweder an Berts Schlüssel gelangen, oder irgendwie aus meinem Käfig gelassen werden. Dann durch ein unmögliches Wunder nahe genug an Graubein gelangen, um ihn mit einer Waffe, die ich nicht hatte und von der ich nicht wusste, wie ich sie bekommen sollte, den Garaus zu machen. Und wenn das nicht funktionierte, über Bord springen. Einfangen konnten die mich dann immer noch. Aber vielleicht ergab sich ja ausserhalb des Schiffes eine Möglichkeit, mich zu verstecken. Oder Bert und Rotz auszuschalten. Oder von Ausserirdischen entführt zu werden.
Eine Zeitlang hatte ich gehofft, an Hunger und Durst zu sterben. Wie ich herausfand, war das Sterben auf der Ramanuja allerdings nicht so einfach. Mein Körper wurde zwar immer schwächer, und der Durst quälte mich. Dennoch blieb eine gewisse Grundsubstanz erhalten, die nicht weniger wurde. Der Tod war also kein Ausweg. Als ich mich zum ersten Mal bei diesem Gedanken ertappte, war ich von mir selbst entsetzt. Sterben als Option? Ich war noch nie jemand gewesen, der sowas in Betracht gezogen hatte! Allerdings war ich auch noch nie in einer so grauenhaften und bizarren Situation gewesen. Jeder hat wohl eine Grenze, an der der Leidensdruck so gross wird, dass der Tod zur Alternative wird. Ich hatte meine Grenze offenbar erreicht und überschritten. Dass mir diese Möglichkeit verwehrt blieb, machte es nicht besser.
„Du kannst nur mit dem arbeiten, das Du zur Verfügung hast“, hatte mir ein Altgeselle mal gesagt.
Also zählte ich zusammen, was mir zur Verfügung stand. Es war nicht viel. Stinkende Abfälle und die Tatsache, dass ich nicht sterben konnte. Aber konnte ich krank werden? Mich vielleicht vergiften? Wäre ein möglicher, qualvoller Tod besser als das, was ich seit wer weiss wie lange schon ertrug? Es gab nur eine Möglichkeit, diese Fragen aufzulösen. Meine Liste der unbeantworteten Fragen war sowieso schon zu lang. Entweder würde ich zumindest diese Fragen beantworten können, oder das Ende aller Fragen erreichen. Es nicht zu versuchen, war definitiv keine Option mehr.
Ich schloss die Augen, seufzte tief, und begann, diese schleimige, stinkende Masse nach annähernd essbar aussehenden Stücken zu durchsuchen. Wenn es mich nicht umbrachte, dann hätte ich zumindest etwas im Magen.
Den Ekel zu überwinden war nicht so schwierig, wie ich erwartet hätte. Dass ich seit wer weiss wie lange auf verfaulendem Abfall sass, trug sicherlich seinen Teil dazu bei. Die Zeit hier hatte mich abgestumpft, und wenn akzeptable Möglichkeiten fehlen, schaut man sich die Inakzeptablen an. Damit die neuen „Lieferungen“ nicht in dem verfaulten Matsch landeten, der sich unter mir angesammelt hatte, zerriss ich mein Hemd, und spannte es unter die Gitterstäbe, die meinen Käfig nach oben begrenzten. In der Dunkelheit hier unten fiel das nicht weiter auf. Oder vielleicht doch. Und wenn, dann kümmerte es niemanden.
Ich habe keine Ahnung, wie lange ich dort unten Gräten abnagte und Fischinnereien herunterwürgte. Wenn ich hier herauskam, das schwor ich mir, würde ich niemals wieder Fisch essen!
Einmal fand ich in dem Unrat, der herabgekippt wurde, einen in zwei Teile zerbrochenen Holzbecher. Ich riss einen Streifen Stoff von meiner Hose ab, und band die Teile zusammen. Damit fing ich mehr schlecht als recht das salzige Wasser auf, dass fast ständig auf die Käfige sprühte. Zumindest würde ich nicht völlig geschwächt sein, falls sich die unwahrscheinliche Möglichkeit bot, nahe genug an Bert oder Graubein zu kommen.
Diese Art der „Ernährung“ bekam mir nicht gut. Das Salzwasser verusachte noch mehr Durst, aber dafür konnte ich meinen Körper zumindest mit einer kleinen Menge Wasser versorgen. Die halb verrotteten Stücke, die ich mit zugehaltener Nase herunterwürgte, verursachten Übelkeit und Bauchschmerzen. Und trotzdem fühlte ich, dass meine Kräfte langsam wieder zurückkehrten. Welches Hexenwerk auch immer die Gefangenen an einem qualvollen Leben hielt, verhinderte auch, dass ich durch Salzwasser und verdorbene Nahrung starb. So machte ich den Nachteil, nicht sterben zu können, zu meinem Vorteil.
Mein geistiger Zustand glich immer mehr dem eines Tieres, eines kleinen, grauen Tieres, dass sich durch die Kanalisation und Abfälle wühlt, und alles frisst, was nicht aus Stein oder Stahl ist. Es ging einzig darum, nicht völlig entkräftet zu sein. Wenn sich irgendeine Möglichkeit zur Flucht ergab, dann wollte ich nicht kriechend entkommen.
Tony versorgte mich zwischenzeitlich immer wieder mit Informationen über meine Umgebung, und ich bekam eine ungefähre Vorstellung von der Aufteilung des Schiffs. Der Raum, in dem sich die Mannschaft aufhielt und ruhte, wenn sie keine Arbeit verrichteten, grenzte an den Raum, in dem ich mich befand. Das Pulver- und Waffenlager lag dahinter. Es gab mehrere Kanonendecks, Decks, die nicht genutzt wurden, unbewohnte Kabinen und Räume, in denen Gerümpel gelagert wurde. Bert und Rotz schliefen in der Kabine im Bugkastell. Dort hielten sie sich die meiste Zeit auf, tranken und spielten Karten. Vorräte oder eine Kombüse gab es nicht. Nahrung, Wasser und Rum kam aus Fässern, die niemals leer wurden. Das Schiff hatte fünf Masten, sechzig Kanonen und eine nicht bestimmbare Anzahl von Piratenkreaturen. Der Steuermann verliess nie das Ruder, schlief und ass nicht, sprach nicht, starrte immer geradeaus und schien willkürlich zu steuern. Anweisungen zum Kurswechsel gab es nicht.
Graubein, wenn er nicht gerade eine der unheimlichen Zeremonien durchführte, blieb in seiner Kajüte. Dort brütete er meistens über seltsamen Seekarten, steckte einen Kurs ab, dann einen anderen Kurs, dann noch einen Kurs, und dann noch einen. Er schrieb ins Logbuch, trank Rum, sass endlos lange regungslos auf seinem Stuhl und starrte die Wand an.
Wie mir all diese Informationen helfen sollten, wusste ich nicht. Doch Tony war, neben den wenigen Neuzugängen, mein einziger Gesprächspartner. Leider kam er immer seltener und kürzer, seine Stimme wurde leiser und irgendwann zu einem Flüstern. Und eines Tages kam er zum letzten Mal zu mir.
„Harry.“ Seine Stimme war schwach. „Ich glaube, es ist das letzte Mal, dass ich mit Dir sprechen kann. Es ist so dunkel, hier, wo ich bin. Es fällt schwer, mich daran zu erinnern, dass ich überhaupt bin.“
„Tony, halte durch!“, versuchte ich ihn aufzubauen. „Irgendwann wird etwas passieren, das mich hier raus…“
„Nein, nein, Harry. Du verstehst nicht. Hör mir zu. Ich löse mich auf. Mein Körper hat das Schiff genährt, doch mein Geist wehrte sich, verschlungen zu werden. Aber meine Kraft ist am Ende. Ich kann Dir nicht mehr helfen, Harry. Ich spüre, wie ich… Weniger werde…“
„Tony!“
„Ich habe Angst. Angst, dass ich nie mehr zurückfinde…“
„Tony?“
Er antwortete mir nicht mehr. Zum ersten Mal, seit einer scheinbaren Ewigkeit, weinte ich. Der grimmige Trotz, der mir die Kraft zum Weitermachen gegeben hatte, zerbrach. Zusammengerollt in einer Ecke meines Käfigs weinte ich um meine Freiheit, um meinen Gesprächspartner, um mein Schicksal und um meine Hilflosigkeit. Ich weinte, als ich jede Hoffnung verlor, irgendwie aus dieser Geschichte herauszukommen. Ich weinte, bis ich zu erschöpft war, um zu weinen, und fiel in einen traumlosen Schlaf. So verging die Zeit, ohne Tag und Nacht, nur das Streiten mit Bert, die Demütigungen mit Unrat und die Misshandlungen waren eine Art Uhr für mich…
Ein lautes Krachen riss mich aus dem Schlaf. Das Schiff erbebte, ich hörte Graubein brüllen und das Stampfen vieler Füsse oben an Deck. Ein weiteres Krachen liess das Schiff zittern, Holzstücke regneten auf mich herab. Das hölzerne Gitter, das als Abdeckung für die Öffnung diente, durch die die Käfige in den Schiffsbauch oder wieder an Deck gehoben wurden, war zerbrochen. Laute Schreie waren zu hören. Dann fiel etwas mit einem dumpfen Schlag auf meinen Käfig, und ich schaute nach oben. Dort lag eine der Kreaturen, die linke Körperhälfte zerschmettert. Eine zähflüssige, schwarze Flüssigkeit begann, in langen Fäden aus ihr herabzutropfen und durchtränkte mein Hemd, das noch immer zwischen den Gitterstäben gespannt war. Die Ramanuja wurde angegriffen!
Noch ein Krachen. Noch ein Schlag, der das Schiff durchrüttelte. Waren das Kanonenschüsse?
Ich drückte mich in eine Ecke des Käfigs, damit dieses schwarze Zeug nicht auf mir landete. Dann sah ich das Messer am Gürtel des Gefallenen. Eine Waffe! Vielleicht konnte ich damit das Schloss knacken, das meinen Käfig verschlossen hielt. Wenn nicht – nun, es wäre zumindest ein beruhigendes Gefühl, nicht mehr unbewaffnet zu sein. Und möglicherweise ergab sich sogar eine Gelegenheit, an Graubein heranzukommen, wenn sie mich zu welch grauenhafter Zeremonie auch immer an Deck holen würden.
Da schoss mir ein Gedanke durch den Kopf. Ich ging wie selbstverständlich davon aus, dass es irgendwann noch weitere Zeremonien geben würde. Aber was, wenn die Ramanuja sank? Was, wenn die Angreifer das Schiff so weit beschädigten und sie sich nicht mehr über Wasser halten würde? Ich kämpfte die aufsteigende Panik in mir nieder. Es war sinnlos, mir jetzt darüber Gedanken zu machen. Und vermutlich wäre der Tod an Bord eines sinkenden Schiffes ohnehin besser, als…
Ich schüttelte den Kopf und verwarf diesen Gedanken. Er half mir nicht weiter. Die Zeit, über die Vorzüge eines mehr oder weniger schnellen Todes nachzudenken, war nicht jetzt.
Ein weiterer Gedanke tauchte wie eine grauenhafte Monstrosität auf. Was war, wenn die Ramanuja sank, und ich nicht sterben konnte? Ich würde bis in alle Ewigkeit nach Luft ringend auf dem Grund des Meeres…
„Bah!“, spie ich aus. Nein. Ich würde mich nicht von solchen Horrorbildern lähmen lassen.
Ich griff entschlossen nach dem Messer, zog es aus dem Gürtel und betrachtete die glänzende Klinge. Es war sehr scharf und gut gepflegt. Die Schneide war etwas länger als von meiner Handwurzel zur Spitze des Mittelfingers, der Griff lag gut in meiner Hand und war mit einem dicken Lederstreifen umwickelt. Ein gutes Werkzeug, sagte ich mir, und musste zum ersten Mal seit langer Zeit grinsen. Ich dachte noch immer wie ein Handwerker, nach allem, was ich hier erlitten hatte. Das Messer fühlte sich gut an. Ich hatte wieder Hoffnung und spürte eine grimmige Entschlossenheit… „Diese Baustelle zu Ende zu bringen“, sprach ich den Rest des Gedankens leise aus. Ich kroch zur Käfigtür und probierte mein Glück mit dem Messer. Die Klinge war zu breit. Damit würde ich das Schloss nicht aufbekommen.
Das Schiff bebte erneut, neigte sich in eine Richtung, und dann langsam wieder zurück. Das Krachen der Kanonen hatte aufgehört. Stattdessen erklangen jetzt wilde Schreie von oben, und das Klirren von Eisen auf Eisen. Die Gegner mussten wohl längsseits gegangen und an Bord gekommen sein.
„Welche Götter mich auch immer hören mögen, gebt mir eine Gelegenheit, aus diesem verdammten Käfig zu entkommen!“, presste ich hervor. Mit einem dumpfen Krachen landete etwas vor meinem Käfig und blieb regungslos liegen. Kalte Fischaugen glotzten mich an. Vor mir lag ein menschlicher Körper mit einem Fischkopf!
„Was zum Teufel..?“
Die Kreatur trug eine grüne Hose, ein ebenso gefärbtes Hemd (wobei sich selbiges rasch in einem blassen Rot färbte), und einen breiten Ledergürtel. Die Füsse waren nackt, mit langen Zehen, zwischen denen sich Schwimmhäute spannten. An den Fingern entdeckte ich Schwimmlappen, paarige Verwachsungen, die aufklappten, wenn sie durchs Wasser gezogen wurden und ähnlich wie Schwimmhäute mehr Widerstand boten. Ich vermutete, dass Schwimmhäute zwischen den Fingern die Geschicklichkeit beinträchtigen würden. Ihre Haut schimmerte und was mit winzigen Schuppen bedeckt. Die Anatomie dieser Kreatur war interessant, aber etwas Anderes an ihr zog meine Aufmerksamkeit auf sich. In einer Hand hielt sie einen sehr schlanken, vierkantigen Parierdolch. Wenn ich das Messer als Verlängerung nutze, konnte ich ihn vielleicht erreichen und damit das Schloss knacken.
Ich schaute mich nach den anderen Gefangenen um. Es gab keine Anzeichen, dass sie die neue Situation überhaupt zur Kenntnis nahmen. Und ich fragte mich nicht zum ersten Mal, warum ich nicht von der gleichen Apathie ergriffen wurde, wie meine Leidensgenossen. Auch diesen Gedanken verscheuchte ich, und konzentrierte mich darauf, den Dolch zu erreichen, der vielleicht meine Freiheit bedeutete.
Auf dem Bauch liegend und die Schulter an das Gitter gepresst, angelte ich mit dem Messer nach der Waffe. In meinen Gedanken sah ich mich schon das Kampfgetümmel ausnutzen, um mich an Graubein heranzuschleichen, und ihm den Dolch ins Herz stossen. Grausam lächelnd in seine sich trübenden Augen zu blicken. Mein kurzer Tagtraum der süssen Rache endete jedoch wenige Zentimeter vor dem Dolch. So sehr ich mich auch streckte, ich kam nicht heran.
„Verdammt!“, fluchte ich.
Enttäuscht drückte ich meine Stirn auf eine der Eisenstangen am Käfigboden. Es half nichts, der Dolch war für den Moment unerreichbar für mich.
„Na gut. Dann warte ich eben auf den Nächsten.“
Und der Nächste kam. Besser gesagt, DIE Nächsten. Und sie brachten eine Überraschung mit.
Ein Teil des Decks stürzte mit einem lauten Krachen herab und bildete eine steile Rampe. Ich sah mehrere der fischköpfigen Kreaturen und der Mannschaft in einem Haufen aus Armen und Beinen herabrutschen, und am anderen Ende des Raums gegen die Wand prallen. Ein wilder Kampf mit Säbeln, Rapieren und Dolchen brach aus, im Halbdunkel konnte ich jedoch nicht viel erkennen. Dann musste jemand an Deck eine brennende Fackel fallen gelassen haben, die nun ebenfalls die Rampe herunterrollte. Zu meiner Überraschung entdeckte ich zwischen den kämpfenden – Bert!
Die Fischköpfe, wie ich beobachtete, waren eindeutig die besseren Kämpfer. Hieb um Hieb streckten sie die Kreaturen der Ramanuja nieder, bis Bert sich gegen drei Gegner auf einmal behaupten musste. Sein breiter Säbel parierte die schlanken Rapiere, und schlug mit einer schnellen Drehung einen Fischkopf ab, der daraufhin über den Boden rollte und vor einem Käfig liegen blieb. Der Gefangene, der darin hockte, zeigte keinerlei Regung und stierte dumpf ins Halbdunkel.
Die restlichen zwei Gegner versuchten, Bert in die Zange zu nehmen und kamen von zwei Seiten auf ihn zu. Bert behauptete sich gegen den Angriff, zog sich aber eine tiefe Schnittwunde am linken Arm zu, als er den Rapier seines Gegners mit seiner blossen Hand abwehrte. Der Weg zu einer zweiten Waffe wurde ihm von den Fischköpfen versperrt. Meine Chance! Wenn ich es schaffte, dass diese Fischköpfe Bert hier vor meinem Käfig niederstreckten, gelangte ich vielleicht an den Schlüssel!
„Bert!“, rief ich. Er warf mir einen kurzen, missmutigen Blick zu.
„Keine Zeit zum Spielen, Kleiner!“, raunzte er zurück.
„Der Parierdolch!“, rief ich ihm zu, und deutete auf den toten Fischkopf vor meinem Käfig.
Bert schaute erneut zu mir herüber, einen Hieb abwehrend.
„Gut mitgedacht, Harry!“ Im weiten Bogen schlug sein Säbel nach den Fischköpfen, die zurücksprangen und ihm ein wenig Raum gaben. Er liess sich von dem Schwung herumwirbeln und sprang aus der Reichweite der Rapiere. Sich abrollend kam er wieder auf die Beine und rannte zu dem Dolch. Etwas an seinem Gürtel blitzte kurz im flackernden Licht der Fackel auf, als er sich bückte. „Der Schlüssel!“, fuhr es mir durch den Kopf.
Schon waren seine Gegner wieder heran, und Bert stand mit dem Rücken zu mir. Die Fischköpfe kamen langsam näher, blutgetränkte Rapiere funkelnd im Fackelschein. Bert stand geduckt und angespannt, Säbel und Dolch in Händen, den Angriff erwartend. Der erste Fischkopf sprang auf ihn zu, wich jedoch aus, um seinem Kameraden Platz zu machen, der den durch diese Finte abgelenkten Bert niederstrecken wollte. Nur fiel Bert nicht auf diesen Trick herein. Er empfing den zweiten Angreifer mit einem nach oben geschwungenen Säbelhieb, der den Fischkopf aufschlitzte, sodass dieser auf einem Haufen seiner eigenen Eingeweide sein Leben aushauchte.
„Die stinken von innen noch schlimmer als von aussen, was, Harry?“, frotzelte Bert, doch schon war der letzte verbliebene Angreifer wieder heran und setzte Bert mit seinem Rapier unter Druck. Bert griff ebenfalls an und hakte seinen Säbel unter den Rapier seines Gegners. Er wollte ihn zurückdrängen und zu Fall bringen, rutschte jedoch auf Blut und Eingeweiden aus und wurde nun seinerseits zurückgedrängt. Zu meinenm Käfig! Berts Rücken knallte gegen das Gitter, Rapier und Säbel ineinander verhakt, Berts Dolchhand von einer mit winzigen, silbernen Schuppen bedeckten Klaue umklammert, rangen die beiden Kämpfer um ihren Vorteil.
Ich schickte mich an, Bert das erbeutete Messer in den Rücken zu stossen, besann mich jedoch eines Besseren. Tötete ich Bert, wusste ich nicht, was der Fischkopf tun würde. Würde er meine Hilfe anerkennen? Oder war er eine blutrünstige Bestie, die mich auch töten würde? Verdammt! Ich konnte diese Chance nicht ungenutzt lassen! Lieber den Teufel, den ich kannte! Also fiel ich hinter Bert auf die Knie, tastete vorsichtig nach dem Schlüssel, den ich gesehen hatte, und durchtrennte die dicke Lederschnur, mit der er an seinem Gürtel befestigt war. Schnell versteckte ich ihn in dem Unrat, der zwischen den Gitterstäben am Boden lag. Ich stand auf, packte das Messer und stiess es an Berts Kopf vorbei in den Hals des
Fischkopfs, der mittlerweile Berts Dolcharm so weit verbogen hatte, dass er ihn gleich in seine Flanke hätte rammen können. Mit einem röchelnden Ächzen sank die Kreatur zu Boden.
Bert schaute seinen sterbenden Gegner an, und drehte dann langsam den Kopf zu mir.
Er nickte.
„Guuuut gemacht! Das werde ich nicht vergessen, Harry, jaaa?“
Mit diesen Worten lief er zur Rampe und hangelte sich daran empor, um sich wieder in den Kampf zu stürzen.
Ich wartete, bis er ausser Sicht war. Dann wühlte den Schlüssel hervor und betrachtete ihn.
„Ich glaub nicht, was da gerade passiert ist“, murmelte ich, während ich den Schlüssel einigermassen sauber wischte.
Wer dort oben den Kampf gewann, wusste ich nicht. Es war mir in diesem Moment auch egal. Ich kroch zur Käfigtür, streckte meinen Arm durch die Gitterstäbe, steckte mit zitternden Fingern den Schlüssel in das Schloss, und drehte ihn um.
Es ging nicht.
Verzweifelt bewegte ich den Schlüssel hin und her, versuchte wieder und wieder, die Tür aufzuschliessen. Nach vielen Versuchen musste ich einsehen, dass dieser Schlüssel nicht passte. Er passte nicht!
„VERDAMMT NOCHMAL!“, schrie ich frustriert, und schleuderte den Schlüssel durch die Gitterstäbe. Verzweifelt setzte ich mich auf den Boden, lehnte meinen Rücken an die Käfigwand und schloss die Augen.
„Kann nicht wahr sein“, flüstere ich, und schüttelte den Kopf. Ich bereute, dass ich den Schlüssel in meiner Wut weggeworfen hatte. Vielleicht hätte ich es noch ein paar Mal versuchen sollen? Vielleicht mit etwas mehr Druck? Vielleicht das Schloss mit dem fettigen Schleim ein wenig schmieren? Vielleicht..?
„Ach, scheiss doch drauf“, sagte ich zu mir selbst. Vielleicht dies, vielleicht jenes, jetzt war es zu spät.
Ich legte die Unterarme auf meine angezogenen Knie und liess den Kopf hängen. Also schön. Ich hatte einen Schlüssel, der nicht passte. Ach nein. Den hatte ich nicht mehr. Aber ich hatte ein Messer. Von dem Bert jetzt wusste. Allerdings hatte ich Bert im Kampf zur Seite gestanden, obwohl ich im Käfig eingesperrt war. Obwohl er mich sehr demütigend behandelt hatte. Das hatte ihn beeindruckt, da war ich sicher. Bisher hatte er meinen Namen spöttisch auseinander gezogen. Diesmal hatte er ihn normal ausgesprochen.
Alles in allem, nicht das Ergebnis, auf das ich gehofft hatte.
„Aber besser als nichts“, flüsterte ich.
Ich streckte die Beine aus, verschränkte die Arme vor der Brust und liess meinen Kopf nach hinten gegen die Eisenstäbe sinken. Gischt sprühte durch das Loch an Deck auf die Rampe, und floss in kleinen Rinnsalen darauf herab. Der Tote, der auf meinem Käfig lag, hatte aufgehört zu bluten, dafür bedeckte die schwarze Masse jetzt den Boden zwischen den Gitterstäben, auf denen ich sass. Mein Hemd, auf dem die dunklen Flecken schon längst zu einem einzigen Fleck zusammengewachsen waren, starrte nun von schwarzem Blut. Meine Hose war zerschlissen und mit Unrat verkrustet. Vermutlich war dieser Schmutz alles, was sie noch zusammenhielt.
Meine Augen wanderten zu dem Fischkopf, den ich getötet hatte. Er lag auf der Seite, seine Hand umklammerte noch immer den Rapier, und das Blut floss weiter aus der tiefen Stichwunde in seinem Hals. Die Leiche lag nah genug an den Gitterstäben, um sie zu erreichen. Ich kroch zu ihr hin und drehte sie auf den Rücken. Dieser hier trug seinen Parierdolch noch am Gürtel. Ich zog ihn heraus und nahm ihn an mich. Bert wusste von dem Messer. Aber auch, wenn er mir jetzt vielleicht etwas mehr zugeneigt war, wollte ich so viele Vorteile wie möglich auf meiner Seite haben.
Ich schaute mir den Dolch genauer an und bezweifelte, dass ich damit das Schloss aufbringen würde. Trotzdem versuchte ich es, und sah nach einigen Versuchen ein, dass hier nicht viel zu machen war.
Mein Blick fiel wieder auf den Gürtel des Fischkopfs. Leder. Ich könnte eine provisorische Scheide für den Dolch daraus machen und versteckt an meinem Körper tragen. Sofern dieser nicht in Lumpen gekleidet wäre, unter denen sich nichts mehr verbergen liess. Das Hemd und die Hose der fischköpfigen Leiche hingegen…
Schnell griff ich wieder durch die Gitterstäbe und zog den Toten aus. Er war schwierig und kostete einiges an Zeit und Kraft, seine Kleidung an mich zu nehmen. Sie war ebenfalls schmutzig, und ein grosser Blutfleck hatte sich auf dem grünen Stoff gebildet. Aber zumindest war sie nicht zerrissen. Und im Vergleich zu dem, was ich am Leibe trug, sah seine Kleidung wie frisch gewaschen aus.
Ich riss mir die Lumpen herunter, und war einigermassen entsetzt, als ich seit Langem bewusst an mir herabschaute. Ich war dünn geworden, meine Rippen stachen unter der schmutzigen Haut hervor, und die Beckenknochen waren deutlich zu sehen. Schnell zog ich Hemd und Hose an, und probierte den Gürtel aus. Doch selbst im letzten Loch konnte ich noch problemlos beide Arme zwischen Gürtel und Bauch stecken. Mit dem erbeuteten Messer kürzte ich das Leder, und stach mit dem Dolch ein paar neue Löcher für die Schnalle. Nicht schön, aber ich hatte nichts anderes, und es funktionierte. Das übriggebliebene Lederstück reichte aus, um die Klinge und einen Teil des Dolchgriffs zu verdecken. Der Parierbogen war jedoch zu klobig. Er verhinderte, dass ich die Waffe unauffällig unter meiner neuen Kleidung tragen konnte. Ich schnitt die Lederbänder auf, die um den Griff gewickelt waren. Darunter waren zwei Holzschalen, die um den schmalen, eckigen Metallstab eingepasst waren, aus dessen vorderem Stück die Dolchklinge geschmiedet war. Jetzt konnte ich den Parierbogen zwar zurückschieben, aber der Knauf am Ende des Griffs war zu dick, und ich konnte den Bogen nicht ganz abnehmen.
„Scheisse!“
Ich schaute mir den Knauf genauer an. Er war vernietet, würde sich also nicht so leicht entfernen lassen. Irgendwie musste ich ihn aber vom Griff bekommen! Das Metall an der Klinge war gehärtet, dennoch flexibel genug, um nicht gleich zu brechen, wenn es gebogen wurde. Der Griff hatte keine solche Behandlung erfahren, vermutete ich, und dürfte dementsprechend weich sein. Wenn ich es schaffte, eine Kerbe zu machen, dort, wo der Knauf am Griff endete, könnte ich ihn einfach abbrechen. Oder den Nietenkopf einfach abfeilen. Mein Werkzeug lag jedoch gut verwahrt in meiner Werkstatt, und die befand sich leider nicht auf der Ramanuja. Ohne Sollbruchstelle würde sich der Griff nur verbiegen oder, noch schlimmer, an der falschen Stelle brechen.
Vielleicht konnte ich mit der Schneide des Rapiers das weichere Metall des Griffs genug anritzen, damit dieser dort brach. Ich musste es versuchen. Andere Werkzeuge hatte ich nicht. Für einen Moment hielt ich inne und lauschte dem Kampflärm auf Deck. Es konnte nicht viel Zeit vergangen sein, nachdem Bert die Rampe hochgeklettert war. Oben wurde noch immer gekämpft, doch wie lange noch? Wie lange dauerte ein Kampf auf Deck, bis entschieden war, wer die Schlacht gewonnen hatte?
Ich klemmte mir den Griff des Rapiers zwischen die Knie, die Schneide nach oben, setzte den Dolchgriff direkt vor dem Knauf auf das scharfe, gehärtete Metall und bewegte den Dolch vor und zurück, während ich mich auf Knauf und Griff stützte. Nach einigen Zügen betrachtete ich das Ergebnis.
„Pfff… Das wird nicht einfach“, sagte ich zu dem Fischkopf. „Deine Waffe wirst Du wohl gründlich nachschärfen müssen.“
Ich begab mich wieder an die Arbeit. Nach kurzer Zeit standen Schweissperlen auf meiner Stirn, und die Muskeln in meinen Armen und Schultern begannen zu brennen. Immer wieder schaute ich mir den Fortschritt meiner Arbeit an. Die Schneide hatte sehr schnell ihre Schärfe verloren, und anstatt in das weichere Metall zu schneiden, raspelte sie jetzt winzige Späne aus dem Griff. Viel tiefer würde die Kerbe nicht mehr werden, entschied ich.
Jetzt musste ich den Knauf irgendwo festklemmen, und den Griff als Hebel zu benutzen, damit der Knauf abbrach. Wenn ich ihn unter einen der Gitterstäbe am Boden bekäme… Aber der Käfig war schwer, zu schwer, als dass ich ihn hätte anheben können. Der Spalt zwischen der Tür und den Rahmenstäben war zu schmal, die Abstände zwischen den Stäben selbst zu gross. Hektisch schaute ich umher. Nein. Es gab nichts zum Festklemmen. Nichts. Frustriert schaute ich auf die flache Kerbe am Griff. Wenn ich ein paar Keile hätte, die ich zwischen die Gitterstäbe schieben könnte, um den Knauf damit zu fixieren. Natürlich! Erst jetzt fielen mir wieder die zersplitterten Holzstücke ein, die einmal zu dem Gitter gehört hatten. Schnell fand ich ein paar passende Stücke, packte sie zwischen die Stäbe und quetschte den Knauf in den schmalen Spalt. Ich atmete tief durch und drückte. Das Metall verbog sich, und ich sah einen winzigen Riss in der Kerbe entstehen. Fester drücken! Der Riss wurde grösser, tiefer – und dann verbog sich der Griff. Ok. In die andere Richtung ziehen. Hin und her, um das Material zu schwächen. Ein Fischkopf stolperte die Rampe hinunter, Blut floss aus einer tiefen Wunde an seinem Schwertarm, weitere Wunden bedeckten seinen Oberkörper, und das Hemd hing in Fetzen von seinen Schultern. Zwei, nein, drei Kreaturen folgten ihm, schlugen mit ihren Säbeln auf ihn ein, bis er bewegungslos am Boden lag. Ich zog und drückte an dem Dolch, hoffte, dass der Knauf nicht aus dem Spalt rutschen würde, und mein verzweifeltes Hebeln nicht auffiel. Köpfe drehten sich zu mir. Ich erstarrte. Das war’s. Mein Dolch würde nicht länger geheim bleiben. Dann drehten sich die Kreaturen um und kletterten die Rampe wieder hinauf.
„Oh Mann“, flüsterte ich. Hatten die Kämpfer gesehen, was ich hier tat? Nein, der kurze Moment würde sicher nicht ausgereicht haben. Ausserdem war es zu dunkel hier, und nichts an deren Reaktion hatte darauf hingedeutet, dass sie etwas Ungewöhnliches gesehen hätten.
Ich arbeitete verbissen weiter, zweimal rutschte der Knauf ab, ein paar Mal musste ich neue Holzstücke zwischen die Gitterstäbe zwängen, weil die Stücke zersplitterten. Aber endlich, endlich
brach der Knauf vom Griff ab, und ich schickte ein kurzes Stossgebet der Dankbarkeit an welche Götter auch immer mir beigestanden hatten. Ich fragte mich, wann ich in diesem Drecksloch religiös geworden war.
Der Kampflärm wurde leiser, meine Zeit knapp. So schnell ich konnte, spaltete ich das Lederstück vom Gürtel in der Mitte auf, sodass ich den Dolch hineinschieben konnte. Einige Fetzen meiner ehemaligen Kleidung dienten als Bänder, mit denen ich die provisorische Scheide an meinen Oberschenkel binden konnte. Die Hose fiel weit über meine abgemagerten Beine, sodass meine versteckte Waffe nicht weiter auffiel. Ich versteckte Knauf und Parierbogen so gut es ging in dem Unrat, der in und um meinen Käfig lag, warf die Holzstücke aus dem Käfig und legte den stumpfen Rapier neben den toten Fischkopf.
Dann betrachtete ich mein Werk.
„Sieht alles ganz unschuldig aus, oder?“, sagte ich zu der Leiche, die auf meinem Käfig lag. Sie widersprach nicht, und ich hoffte, dass der fehlende Parierdolch nicht auffallen würde.
Nach einiger Zeit wurde es ruhig an Deck. Es würde wohl nicht mehr lange dauern, bis sich jemand um mich kümmerte.
„Hast Dich neu eingekleidet, hmmmmm?“
Berts Stimme riss mich aus dem Schlaf, in den ich gefallen war, als ich auf etwas gewartet hatte. Nun, dieses „Etwas“ war gerade an meinen Käfig getreten.
„Graubein will Dich sehen“, sagte Bert, und schloss meinen Käfig auf.
Ich schaute ihn misstrauisch an und erhob mich zögernd.
„Brauchst Du Hilfe?“, fragte Bert ironisch.
„Danke, eine Sänfte mit sechs Trägern wäre nicht schlecht“, antwortete ich ebenso ironisch.
Er grinste. „Das lässt sich einrichten, wenn Du ein Brett als Sänfte akzeptierst, auf dem wir Dich festnageln und über Bord werfen.“
„Ich glaube, zu Fuss bin ich dann doch schneller“, antworte ich, und kroch aus dem Käfig, in dem ich ein gefühltes halbes Leben lang eingesperrt war.
Bert nickte mit dem Kopf zu einer Leiter. „Nach Dir.“
Ich streckte mich, genoss das Gefühl, mich nach so langer Zeit wieder aufrichten zu können, und ging mit vorsichtigen Schritten zu der Leiter.
„Kommt wohl nicht so oft vor, dass jemand nicht im Käfig hier rauskommt?“
„Nein. Bist der Erste, jaa?“
Ich blieb stehen und hob die Augenbrauen. „Warum?“, fragte ich Bert, während ich mich zu ihm umdrehte.
„Geh. Graubein wartet auf Dich. Hast was gut bei mir, aber übertreibs nicht“, erwiderte er scharf.
Die Leiter bereitete mir einige Schwierigkeiten. Meine Beine waren schwach, und meine Muskeln brannten, als ich an Deck stand. Ich keuchte.
„Oi! Keine Ausdauer, hö? Höhö!“
„Ja. Freu mich auch, Dich zu sehen, Rotz.“
„Oi..?“
Ich grinste, während Bert und Rotz mich zur Kabine des Käptns brachten. Die Bewegung tat gut, und langsam kehrte Beweglichkeit in meine Gelenke zurück.
Das Schiff hatte gelitten. Die Reling an der Backbordseite war nur noch stellenweise vorhanden, Decksplanken waren zerbrochen und standen wie mahnende Finger an eine Schlacht, die nur allzu knapp gewonnen wurde. Das Bugkastell war von Kanonenkugeln halb zerschossen, einige Kabinen schienen aber unversehrt zu sein. Den Hauptmast musste ebenfalls eine Kugel gestreift haben. Eine der Rahen war auf das Deck gestürzt. Sie hatte die Planken zerbrochen, die als Rampe in den Laderaum gefallen waren, in dem ich gefangen gehalten war.
Der Schaden am Heck war eher gering, das Kastell war bis auf eine zersplitterte Reling und einige zerbrochene Planken unbeschädigt.
Dort, wo das Podest mit dem Oval stand, stapelten sich Leichen. Fischköpfe. Tote Besatzung der Ramanuja. Ich schaute weg.
„Was macht Dein Arm?“, fragte ich Bert.
„Welcher?“, fragte er zurück.
„Du bist verletzt worden…“
„Ach so. Längst verheilt, war nur’n Kratzer.“
Ich schwieg. Was ich gesehen hatte, war nicht nur ein Kratzer gewesen. Dann dachte ich die unzähligen Platzwunden und Prellungen, die man mir im Käfig zugefügt hatte. Diese Verletzungen waren meist nach kurzer Zeit schon wieder verheilt und es blieben einige wenige, kleine Narben zurück. Warum sollte das für Crew nicht auch so sein.
Dann hatten wir Graubeins Kabine erreicht.
„Warte hier. Du kennst das ja.“, grinste Bert, und verschwand hinter der Tür.
„Oi! Bist’n harter Bursche, hö?“
„Was?“
„Bist nich träge geworden da unten, nich wie die Anderen, höhö. Warum’n nich, hö?“
„Tja. Gute Frage, Rotz.“
Dann war Bert wieder bei uns.
„Geh rein. Graubein wartet.“
Ich öffnete die Tür. Diesmal stiess mich niemand hindurch. Bert und Rotz verhielten sich mir gegenüber anders als bei meiner Ankunft. Weniger herablassend und zynisch. Ich dachte an Tony. Er hatte mich hier hineingeritten, doch ich konnte es ihm nicht verübeln. Wenn er auch nur einen Bruchteil dessen durchgestanden hatte, was mir hier widerfahren war, konnte ich gut nachvollziehen, dass er ALLES getan hätte, um von hier zu entkommen. Ich vermisste ihn. Er war wenig hilfreich gewesen, aber die Gespräche mit ihm, nachdem er von der Ramanuja – was? Gefressen wurde? Absorbiert? Es hatte mir geholfen, mit ihm zu reden, egal über was.
„Ah, Harry. Setz Dich doch“, empfing mich Graubein.
Hier war ich also. Wieder in der Kapitänskajüte. Ich fühlte den Druck des Dolches an meinem Bein, und das Verlangen, mich auf diesen Piratenkäptn zu stürzen. Aber ich setzte mich. Ich musste mehr über… Über alles wissen!
„Käptn“, grüsste ich knapp.
Graubein nahm zwei Becher und goss Rum ein.
„Hier. Sei mein Gast“, sagte er, und schob mir einen der Becher zu. Ich schaute den Becher an, und schob ihn zurück.
„Was, traust Du mir nicht?“
„Nein.“
„Gut. Denn ich traue Dir auch nicht.“ Er legte einige Papierrollen beiseite, und stützte die Unterarme auf den Tisch. In der Kabine brannten neben den Kerzen jetzt auch einige Lampen. Mein Blick fiel auf eine Vitrine, in der eine sehr edel aussehende Uniform hing. Ein marineblauer Rock, besetzt mit purpurnem Kragen und Revers, und ebenso gefärbten Aufschlag an den Ärmeln. Eine Hose und schwarze Stiefel sah ich, ausserdem zwei Schultergurte, in deren Laschen insgesamt vier reich verzierte Pistolen steckten. Daneben hing ein Gürtel mit Säbel und Messer. Ein blauer Dreispitz mit purpurnem Federbesatz machte die Uniform komplett.
Graubein folgte meinem Blick. „Ah. Die Uniform. Sie ist hübsch, nicht wahr? Ein besonderer Anlass verlangt ein angemessenes Auftreten, weisst Du. Aber hier gibt es keine besonderen Anlässe. Seit ich hier bin, habe ich diese Vitrine noch nie geöffnet.“
Er drehte sich wieder zu mir um und sah mich an.
Seit er hier ist? War diese Uniform schon vor ihm da, und war er womöglich nicht der erste Käptn auf der Ramanuja?
Graubein unterbrach meine Gedanken.
„Bert hat mir erzählt, was passiert ist. Sag mir, Harry, wie hast Du das gemacht?“
Meine Augen traf die seinen. Kalte musterte er mich, schätzte ein, wer ihm da gegenüber sass.
„Die Leiche auf meinem Käfig hatte ein Messer am Gürtel. Damit habe ich durch die Gitterstäbe gestochen und den Fischkopf…“
„Den Vorrekh, ja. Aber das meine ich nicht. Du hättest still in Deinem Käfig sitzen sollen, wie die anderen. Stattdessen hast Du gebrüllt. Und nicht nur das. Du hast einen Bert gerettet, ihn zu einer Waffe geführt und dann seinen Gegner erledigt, der ihn zweifellos getötet hätte. Auch, wenn er das ein wenig anders dargestellt hat. Also, warum bist Du nicht dem Gift verfallen wie die anderen? Hm?“
Ich schwieg und schaute ihn an.
„Weisst Du es nicht, oder willst Du es mir nicht sagen, Harry?“
„Ich weiss es nicht. Ich habe die anderen gesehen, in den Käfigen, und mir gewünscht, ebenso teilnahmslos und dumpf zu verblassen. Du kannst Dir nicht vorstellen, WIE sehr ich mir das gewünscht habe, Käptn!“ Die letzten Worte hatte ich scharf und anklagend ausgesprochen.
„Und niemand hat es für nötig gehalten, zu sehen, was da los ist“, setzte ich nach.
„Nein, Du warst schliesslich in einem Käfig gefangen. Was soll es mich da kümmern, wie es Dir geht, hm?“
„Und trotzdem hast Du mich holen lassen. Jetzt.“
„Ja, richtig. Du weisst also nicht, warum Du dem Gift nicht verfallen bist?“
„Nein. Was soll das für ein Gift sein?“
„Oh, ja. Es ist das Gift der Hoffnungslosigkeit, mein Freund. Das Gefühl, nichts tun zu können. Die Luft, die Planken, alles, was dort unten ist, ist damit getränkt. Und niemand ist stark genug, dem zu widerstehen. Das hat mich verwundert. Deswegen habe ich Dich im Käfig gelassen und nicht nach oben geholt. Warum also Du?“
„Ich habe nicht die leiseste Ahnung.“
Graubein sah mich scharf an. Dann nickte er.
„Gut. Gut, ich glaube Dir. Vorerst. Und nun sag mir, warum hast Du das andere getan? Warum Bert helfen, wo er Dich doch so erniedrigend behandelt hat?“
Ich grinste. „Die, wie nanntest Du diese Fischköpfe?“
„Die Vorrekh.“
„Ah, richtig. Die Vorrekh schienen mir noch grausamer zu sein als Bert. Kennst Du das Sprichwort Lieber den Teufel, den man kennt, als den, den man nicht kennt?“
Der Käptn hob die Augenbrauen.
„Nein, dieses Sprichwort kenne ich nicht. Aber ich verstehe, was Du damit sagen willst. Und ich kann Dir versichern, dass Du die Situation genau richtig eingeschätzt hast. Die Vorrekh kennen keine Gnade. Sie opfern jeden, der nicht Vorrekh ist, ihren dunklen Göttern.“
„Klingt irgendwie vertraut“, sagte ich, und sah Graubein herausfordernd an.
„Harry, Du hast keine Ahnung. Im Vergleich zu denen ist das Schlimmste, was ich Dir antun kann, wie ein sonniger Tag am Strand und drei Flaschen Rum.“
„Nun, wenn man sich entscheiden muss, nur einen Finger abgeschnitten zu bekommen, oder gleich den ganzen Arm, mag das so sein. Ich würde meine Welt mit all ihren Problemen trotzdem Deinem Strand vorziehen, egal wieviele Flaschen Rum ich hätte.“
Er verzog den Mund.
„Gut, gut. Lass uns nicht über ein Wenn und Aber streiten, das ohnehin unwichtig ist.“
„Was wäre denn noch wichtig?“, fragte ich.
„Ah, ja“, sagte er, und stand auf. Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken und begann, auf und abzugehen. Schliesslich blieb er vor der Vitrine stehen.
„Ich weiss noch nicht genau, was ich mit Dir machen soll. Was ich von Dir halten soll. Du bist zweifelsfrei etwas Besonders, ja? Ich werde Dich nicht mehr zurück in den Käfig stecken, vorerst. Das Schiff werde ich auch nicht mit Dir füttern. Und da ich nicht weiss, ob ich Dich zu einem Trimér machen kann, wirst Du Bert und Rotz helfen, bis ich eine Entscheidung getroffen habe, was mit Dir geschehen soll.“
„Ich wüsste da noch eine Möglichkeit.“
Graubein drehte sich zu mir um und grinste breit.
„Ja, natürlich. Dich gehen lassen.“
„Was hättest Du dabei zu verlieren?“
„Nichts. Garnichts. Aber abgesehen davon, dass ich Dich nicht gehen lassen werde, gibt es da noch einen kleinen Haken.“
„Und der wäre?“
„Du warst im Nebel. Der Nebel kennt Dich jetzt, und er wird Dich überall hin verfolgen und die Ramanuja mit sich ziehen. Egal wohin Du gehst, weisst Du? Schau, Harry, Tony und Du, ihr wart Euch ein wenig ähnlich. Er war auch rebellisch, selbstbewusst. Aber nicht so… So besonders wie Du. Er hat wie ein Sack Kartoffeln in seinem Käfig gehockt, das Gift hat bei ihm genauso gewirkt wie bei den anderen. Dann haben wir ihn herausgeholt, ihn und einige andere. Wir
haben sie zu Trimér gemacht. Tony war einer der Letzten und hat sich überraschend schnell von dem Gift erholt, weisst Du. Dann ist er über Bord gesprungen, und in Deiner Welt gelandet. Aber der Nebel hat ihn verfolgt, er kannte ihn und hat ihn nicht mehr losgelassen. So hat er den Nebel auch zu Dir gebracht. Und die Ramanuja. Und mich. Du siehst, selbst wenn ich wollte, ich könnte Dich garnicht gehen lassen.“
Ich schloss die Augen und atmete tief ein. Wenn das stimmte…
„Glaub mir, wenn ich Dir sage, dass ich Deine Verzweiflung gut verstehen kann. Ich bin kein Monster, weisst Du.“
„Nein? Sondern ein mildtätiger Mönch, der Andere entführt, in Käfige steckt und zu Zombies macht oder an das Schiff verfüttert?“
Graubein lachte. „Mildtätig ganz sicher nicht, nein. Aber siehst Du, der Nebel kennt auch mich. Und Bert. Rotz. All die anderen, die Du hier an Bord siehst. Keiner von uns kann die Ramanuja jemals wieder verlassen. Nicht einmal ich. Glaubst Du, ich bin seit einer Ewigkeit hier, weil ich mir kein anderes Leben vorstellen kann?“
„Dafür scheint Ihr aber jede Menge Spass zu haben.“
Graubein sah mich scharf an.
„Spass?“
Er nahm seinen Becher und trank ihn in einem Zug leer. Dann knallte er ihn auf den Tisch und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund.
„Spass? Glaubst Du, Harry, Du bist der Einzige, dem es hier nicht gefällt? Glaubst Du, Du wärst der Einzige, der sich ungerecht behandelt fühlt? Nein, mein Freund. Einen Käptn, einen Steuermann, einen ersten Maat und einen Idioten, einen Dummkopf mit dicken Armen braucht das Schiff. Der Rest, die Trimèr, sind die Crew. Die bekommen das Lavasse, das Gesöff, dass sie zu diesen einfältigen Kreaturen macht, die so tumb sind, dass sie sich ihrer ebärmlichen Lage noch nicht einmal bewusst sind. Sie befolgen jeden Befehl, den der Käptn ihnen gibt. Aber ich, Bert, Rotz und der Steuermann, wir wissen, dass wir verdammt sind in alle Ewigkeit! Nein, Harry, Du bist nicht der Einzige, dem es hier nicht gefällt, und dass Du hier bist, das hat alleine Tony zu verantworten. Nicht ich. Nicht Bert. Keiner von uns hat das getan! Und diese Regeln gelten auch für mich!“
Ich schwieg und senkte den Blick. Er war nicht weniger ein Gefangener, als ich es war.
„Das war mir nicht bewusst, Graubein.“
„Ach, egal. Willst Du wirklich keinen Rum?“
„Nein, wirklich nicht. Ich hatte Glück, dass meine Zunge nach dem letzten Mal wieder nachgewachsen ist.“
„Haaha! Auch wenn ich Dir nicht vertraue, Harry, Du gefällst mir. Aber ich glaube, Du brauchst jetzt etwas Zeit zum Nachdenken, eh? Verdauen, was ich Dir gesagt habe, und dass Deine Fluchtpläne vergeblich sind.“
Ich hob den Kopf und schaute Graubein an.
„Hehe, dachtest Du, ich wüsste nicht, dass Du irgendwie entkommen wolltest? Warum glaubst Du, habe ich Dir das alles erzählt, hm? Nun geh, ich habe zu tun. Bert bringt Dich in Eure Kabine.“
So sehr ich Graubein auch hier und jetzt töten wollte, es war nicht der richtige Zeitpunkt. Er war zu misstrauisch, zu aufmerksam und verfolgte jede meiner Bewegungen, als ich aufstand. Ich glaubte nicht, dass er von dem Dolch an meinem Oberschenkel wusste. Ganz ausschliessen konnte ich es jedoch auch nicht. Ich verabschiedete mich, und liess mich von Bert zu meiner neuen Unterkunft führen.
Unsere Kabine stank nach Schweiss und Rum. Es gab einen Tisch, zwei Stühle und zwei Hängematten.
„Wo schlafe ich?“, fragte ich Bert.
„Auf`m Boden, jaaa?“, grinste dieser zurück.
Ich hob eine Augenbraue.
„Nee, guck mal in der Kiste. Da is noch ’ne Hängematte, und Haken. ’nen Hammer kriegste von Rotz, aber sag ihm, er soll Dir den kleinen geben, hörste? Dann hängst Du die Matte hin, wo Platz ist. Kriegste wohl hin, was?“
„Mhm.“ Ich nickte.
„Und noch was.“
Fragend sah ich Bert an.
„Glaub nich, dass Du jetzt dazugehörst. Hast meinen Arsch gerettet, das gilt schonmal was bei mir. Trotzdem hälste den Kopf unten, klar? Nicht im Weg stehen, und tun, was Rotz und ich Dir sagen, hmmm?“
„Verstanden.“
„Guuut.“ Bert drehte sich um und wollte die Kabine verlassen.
„Ach ja“, sagte er, und ging zu dem einzigen Schrank, der in dem engen Raum stand. Er öffnete ihn, griff hinein, und warf mir Hemd und Hose zu. Beides roch muffig, war aber sauber.
„Du stinkst wie ’n Vorrekh. Wasser is in ´nem Fass an Deck neben der Tür.“
Mit diesen Worten ging er, und ich war alleine. Und wirklich, in der Kiste fand ich eine alte Hängematte von zweifelhafter Qualität. Ausserdem lagen dort mehrere eiserne Haken, die an stabile, ovale Platten geschmiedet waren. An der Rückseite befanden sich jeweils drei nach unten gebogene, vierkantige Nägel, die spitz zuliefen, deren Spitzen jedoch abgeflacht waren. Clever. So würden die Nägel, wenn ich sie in die Holzwand schlug, die Holzfasern brechen, und nicht auseinander drücken.
Die Hängematte von Rotz war mit insgesamt sechs dieser Haken befestigt. Ich nahm zumindest an, dass die riesige Matte die von Rotz war. Es wunderte mich, dass die Wände der Kabine nicht einfach nach innen klappten, wenn Rotz sich dort hineinlegte. Ein schiefes Grinsen kroch über mein Gesicht, als ich mir das bildlich vorstellte.
Ich nahm zwei der Haken und die Hängematte aus der Kiste und legte sie auf den Tisch.
Bevor ich zu Rotz ging, schaute ich mich nach dem Fass um, das Bert erwähnt hatte. Es stand nicht ganz neben der Tür, aber ich fand es. Das Wasser war eiskalt, als ich nackt hineinstieg. Trotzdem wusch ich mich gründlich, soweit das ohne Seife und Schwamm möglich war. Es tat gut. Es tat so verdammt gut. Ich trocknete mich mit einem zerschlissenen Tuch ab, das ich ebenfalls in der Truhe gefunden hatte. Dann zog ich die Sachen an, die Bert mir gegeben hatte, und wünschte, es gäbe einen Spiegel in der Kabine. Saubere Kleidung. Sauberer Harry. Nach der langen Zeit, die ich im Käfig gekauert hatte und von stinkendem Unrat umgeben war, fühlte ich mich endlich wieder wie ein Mensch. Und nicht wie eine Ratte, die im Abwasserkanal lebt. Ich atmete tief durch, reckte mich, ballte meine Faust. Ja, ich war wieder frei und konnte meine Kraft spüren. Endlich! Ich fuhr mir mit beiden Händen durch meine feuchten Haare, die nicht mehr klebrig und steif vom Salzwasser waren. Ja. Es war wirklich an der Zeit, dass aus dem eingesperrten Tier, das im Dreck lebte, wieder ein Mensch wurde. Dass ich wieder ich war und mich bewegen konnte.
Ich streckte mich nochmal und machte mich auf den Weg zu Rotz.
Er war gerade damit beschäftigt, ein paar der Trimér in den Hintern zu treten, die Holzfässer unter Deck trugen.
„Oi! Bisschen laufen, Schiesspulver trägt sich nich selber zu die Kanonen, höhö!“
„Hey Rotz. Probleme mit dem Personal?“
„Hö? Was?“
„Schon gut. Ich brauche einen Hammer.“
„Öi, höhö. Welchen?“
„Den Kleinen.“
„Oi! Hol ich. Pass so lang auf die Sprotten auf, höhö!“
„Yepp, mach ich.“
Rotz verschwand mit dröhnenden Schritten. Ich stellte mir vor, wie er wohl gegen die Vorrekh gekämpft hatte. War er einfach auf sie drauf getreten? Oder hatte er sie mit seinen Armen gruppenweise zerquetscht? Als ich mir das vorstellte, beschloss ich, dass ich es eigentlich garnicht wissen wollte.
Die Trimèr wuchteten die Fässer auf ein stabiles Netz. Ich musste an die riesige Hängematte denken, die Rotz gehörte, und erneut grinsen. Haken wurden an den verstärkten Ecken des Netzes befestigt, und mit einer Seilwinde in den Schiffsbauch abgelassen.
„Ihr macht das öfter, hm?“, sprach ich eine der Kreaturen an. Sie drehte den Kopf und glotzte aus trüben Augen, die zu weit auseinander standen, und von denen das eine tiefer hing als das andere. Keine Antwort.
„Wie lange bist Du schon hier? Wie heisst Du?“
Wieder keine Antwort. Der Trimèr glotzte mich nur verständnislos an, und wandte sich nach kurzer Zeit wieder seiner Arbeit zu.
„Oi! Nich sehr gesprächig, die Sprotten, höhö!“
„Nein, wohl nich…“ Ich brach mitten im Satz ab. Rotz hielt mir einen ziemlich grossen Vorschlaghammer hin.
„Ähm… Den KLEINEN Hammer, Rotz.“
„Hö? Das IST doch der Kleine!“ Und mit einem weiteren „Oi!“ drückte er mir den Hammer in die Hand. Niemals würde ich damit Haken in die Schiffswand schlagen.
Vielleicht verstand Rotz besser, was ich von ihm wollte, wenn ich ihm sagte, was ich vorhatte.
„Rotz. Graubein hat gesagt, dass ich vorerst in Eurer Kabine bleiben soll. Ich muss eine Hängematte aufhängen, und dazu die Haken in die Wand schlagen. Mit diesem Hammer geht das nicht, damit reisse ich eher ein Loch in die Wand. Ich brauche einen kleineren Hammer.“
„Oi! Hängematte aufhängen?“
„Ja. Hängematte. Für drin zum schlafen.“ Vielleicht verstand Rotz eher die primitivere Wortwahl.
„Höhö, ist kein kleinerer Hammer da. Brauchste Hilfe?“
Anstatt eine Antwort abzuwarten, riss er den Hammer und mich an sich. Von seinem Standpunkt aus gesehen NAHM er ihn vermutlich. Zum Glück fiel ihm rechtzeitig auf, dass ich noch an dem Griff hing, und fing mich mit der anderen Hand auf. Dann packte er mich an der Schulter und schleppte mich zu unserer Kabine.
„Oi, liegt schon alles da. Wo sollse hin?“
Ich rieb meine schmerzende Schulter, dann streckte ich die Arme seitlich aus und stellte mich dort hin, wo der sinnvollste Platz für die Hängematte war.
„Hier hin.“
„Oi!“ Rotz nahm den Hammer in die linke, einen Haken in die rechte Hand, setzte an und trieb mit einem einzigen Schlag die Nägel bis zum Anschlag in die Holzwand. Die Kabine bebte und meine Ohren klingelten von dem Schlag.
„Alter…“
Den zweiten Haken beförderte Rotz ebenso schlagfertig in die Wand, diesmal hielt mich allerdings die Ohren zu, was zumindest ein bisschen half. Ich wunderte mich, dass das halb zerschossene Bugkastell, in dem sich unsere Kabine befand, nach diesen Schlägen nicht zusammen gebrochen war.
„Oi! Fertig, höhö. Hängste die selber auf?“
„Äh, ja, das krieg ich wohl noch hin. Danke, Rotz.“
„Höhö! Bist garnich so übel, weisste.“
„Danke. Du auch nicht.“
„Oi! Spielste Karten? Höhö.“
„Karten?“
„Oi! Zu dritt machts mehr Spass! Graubein spielt manchmal mit, aber nich oft.“ Rotz machte ein etwas trauriges Gesicht. „Bert spielt auch nich immer mit mir, sitz dann rum und trink und spiel mit mir selber.“
Ich mochte Rotz nicht besonders. Er war dieser typische Bauhelfer, der keine Rücksicht nahm, wenn ihm etwas im Weg stand, und nur funktionierte, wenn man ihm etwas genau erklärte. Dem man sagen musste, welche Wand er einreissen sollte, und welche nicht, weil er sonst das ganze Haus in einen Schutthaufen verwandelte. Der sich aber einbildete, er wäre der Baumeister schlechthin. In diesem Moment jedoch hatte ich Mitgefühl. Ich wusste nicht, wie lange er schon an Bord der Ramanuja war und was er alles erlebt hatte. Woher er kam. Wie er hierher geraten war, aus welchem Leben man ihn gerissen hatte. Und wir würden auf unbestimmte Zeit miteinander auskommen müssen.
„Wenn wir Zeit haben, warum nicht“, antwortete ich, und gab ihm einen Klapps auf den Oberarm.
Rotz strahlte.
„Oi! Fein, höhö!“
Ich sah ein grosses Kind, als er vor Freude in die Hände klatschte.
„Muss wieder los, Deck muss frei sein. Oi!“ Mit diesen Worten verschwand er, und ich war wieder alleine.
Ich befestigte meine Hängematte an den Haken und versuchte, mich hineinzulegen. Ich hatte noch nie in einer Hängematte gelegen.
Rumms! Natürlich fiel ich auf der anderen Seite wieder herunter. Es blieb nicht bei diesem einem Mal, aber nach einiger Zeit hatte ich den Bogen raus. Nicht zu viel Schwung. Früh genug die Beine herumschwingen. Aber nicht zu früh. Rumms! Noch ein paar Mal, und ich schaffte es unfallfrei, in meiner Hängematte zu landen, nicht auf dem Boden und mit einem Fuss in der Matte verheddert. Die blauen Flecken würde ich allerdings noch eine Zeitlang spüren, wenn die wundersame Heilwirkung an Bord des Schiffs nicht gewesen wäre.
Ich blieb eine Weile liegen und dachte nach. Graubein hatte recht. Es gab einiges zu verdauen. Wenn ich wirklich nie wieder von der Ramanuja wegkommen könnte… Nein! Damit wollte ich mich nicht abfinden. Was hatte er über den Nebel gesagt?
„Der Nebel kennt Dich jetzt, und er wird Dich überall hin verfolgen und die Ramanuja mit sich ziehen, egal wohin Du gehst.“
Der Nebel würde mich verfolgen und die Ramanuja mit sich ziehen. Aber was bedeutete das? War die Ramanuja selbst auch im Nebel gefangen? Was war dieser Nebel? Noch mehr Fragen, auf die ich keine Antworten hatte.
Ich dachte seufzend zurück an die Zeit, als meine Fragen „Wie bekomme ich das zum Halten?“ oder „Wie bekomme ich das ab?“ lauteten. Wie hatte sich mein Leben so schlagartig drehen können, in eine Welt, in der Piraten von Fischköpfen angegriffen wurden, und ein Schiff sich mit den Körpern und Seelen anderer Menschen instand hielt? Fragen. Jede Menge Fragen. Und keine Antworten, verdammt!
So grübelte ich, bis Bert mich aus meinen Gedanken riss.
„Naa, bequem so?“
Noch eine Frage. Auf diese hatte ich wenigstens eine Antwort.
„Ja. Erstaunlich bequem“, antwortete ich Bert, der seine Fäuste in die Hüften gestemmt hatte und breitbeinig in der Tür stand.
„Raus aus der Koje. Hast noch genug Zeit zum Rumlümmeln. Graubein besteht darauf, dass Du beim Ritual dabei bist und hilfst.“
„Ritual?“
„Ja. Ritual.“, raunzte Bert genervt. „Das Schiff nähren. Oder sind Dir die Löcher in der Bordwand entgangen? Los jetzt, der
Käptn wartet nicht gerne!“
„Ok, ok, ich komme“, sagte ich schnell, während ich mich ungeschickt aus der Hängematte wälzte, das Gleichgewicht verlor und gegen den Tisch prallte.
Bert verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf.
„Soll ich Dich vielleicht stützen, jaaa?“
Ich gab keine Antwort und folgte ihm an Deck.
„Ah, Harry. Ich dachte schon, Du kommst nicht“, empfing mich Graubein, als Bert mich zum Maul des Schiffs begleitet hatte.
„Heute braucht die Ramanuja jede Menge Nahrung“, sagte der Käptn, und deutete auf den Leichenhaufen. Vorrekh und Trimèr lagen vor dem Podest, auf dem das Oval schon enthüllt war.
„Ist es nicht eine Ironie des Schicksals, dass jene, welche den Schaden angerichtet haben, jetzt dazu beitragen, ihn zu beseitigen? Siehst Du, Harry, im Kahohle gleicht sich alles aus“, fuhr Graubein fort.
„Kahohle?“, fragte ich.
„Aah, richtig. Du kennst dieses Wort nicht, ja? Das Kahohle ist das Allumfassende. Alle existierenden Welten. Das, was dazwischen liegt. Es ist die Existenz an sich, ein grosses Mysterium, das wir niemals verstehen werden, weisst Du? Aber jetzt sollten wir anfangen, bevor die Ramanuja noch sinkt und wir alle nasse Füsse kriegen, ja? Los, an die Arbeit.“
Bert trat vor den Leichenhaufen.
„Los, pack an!“, sagte er missmutig. Auch er schien nicht sehr begeistert von dem zu sein, was uns bevorstand. Er mochte ein zynischer Halunke sein, der wenig Mitgefühl zeigte. Zufrieden war er damit anscheinend nicht.
Er packte eine der Leichen am Arm, ich nahm den anderen, und gemeinsam wuchteten wir den toten Vorrekh auf das Podest. Wir richteten ihn an dem Oval auf, was nicht so einfach war, Rotz hämmerte mit einem gewaltigen Hieb die erste Klammer ins Holz, und fixierte so die Leiche am Schultergelenk. Die zweite Klammer hielt das andere Gelenk, dann stiegen wir wieder vom Podest.
Graubein begann mit seinem Singsang, und kurze Zeit später lag nur noch die schmutzige Kleidung vor dem Oval. Rotz stieg wieder hinauf, warf den Stoff achtlos beiseite, und zerrte die Klammern heraus. Ich beobachtete staunend, wie sich die Löcher und das gesplitterte Holz des Ovals wieder schlossen. Nach wenigen Sekunden war die Oberfläche wieder so glatt wie vorher.
„Genug geglotzt, hmmm?“, fuhr mich Bert an.
Wir arbeiteten weiter, Leiche um Leiche wurde an das Maul des Schiffs geklammert. Auf Berts grimmigen Gesicht standen Schweissperlen, und mein Hemd klebte mir am Rücken. Rotz hingegen war keinerlei Erschöpfung anzumerken.
Als wir den letzten leblosen Körper, es war ein Trimèr, auf das Podest hoben, stiess Bert mit der Hand an mein Bein, wo ich den Dolch trug. Er bemerkte den Umriss, zögerte kurz und schaute mich aus zusammengekniffenen Augen an. Er sagte nichts, deutete nur mit seinem Kopf zum Oval.
„Los, der Letzte, schlafen kannst Du gleich!“
Rotz hämmerte die Klammern ins Holz, und Bert zog mich zu sich herüber, weg von Rotz und dem Käptn, der in seiner Trance nichts davon bemerkte.
„Wenn Du was vorhast, dann tu es jetzt!“, zischte er mir ins Ohr.
Verdutzt schaute ich ihn an. Er nickte, in seinem Blick lag ein Drängen. Ich nickte zurück und griff beiläufig in meine Hosentasche, die ich aufgetrennt hatte, um den Dolch ziehen zu können. Langsam ging ich zu Rotz hinüber, der jedesmal das Schauspiel am Maul des Schiffs verfolgt hatte, und auch jetzt stauenend und mit grossen Augen dorthin schaute. Graubein hatte den Kopf gesenkt, murmelte vor sich hin und gestikulierte mit seinen Händen. Ich zog den Dolch, während ich hinter ihn trat. Meine Faust umklammerte den Griff, die Spitze nach unten zeigend. Ein tiefer Atemzug, dann trat ich mit zwei schwungvollen Schritten nach rechts und vor ihn, und wollte die Klinge in sein Herz rammen. Seine linke Hand packte meinen Arm, zog, und der Dolch stiess an ihm vorbei!
Er schaute mich an, während er meinen Arm umklammert hielt.
„Ich wusste doch, dass ich Dir nicht trauen kann, Harry.“
Dann stiess er mich nach hinten, streckte sein Holzbein aus, ich stolperte und fiel auf den Rücken. Graubein kam einen Schritt auf mich zu, hob sein Holzbein und wollte es mir in den Bauch rammen. Aus dem Bein schoss ein langer Dorn, mit dem er mich aufspiessen wollte. Ich rollte mich im letzten Moment zur Seite, und der Dorn drang in die Planke ein. Ich trat nach seinem gesunden Bein, er strauchelte, fiel jedoch nicht. Während er versuchte, sein Gleichgewicht zu halten, sprang ich auf und schwang den Dolch in einer weiten Bewegung über seinen Bauch. Was leider nicht viel nutzte. Der Parierdolch war lang, spitz und vierkantig, hatte aber keine Schneide. Trotzdem zuckte Graubein im Affekt zurück und betastete seinen Leib, während der Dorn, die aus seinem Holzbein gekommen war, noch immer in der Planke steckte. Sie kam mit einem Ruck frei, er taumelte einige Schritte rückwärts. Ich setzte ihm nach, warf mich gegen ihn, und wir stürzten auf das Deck. Aus dem Augenwinkel sah ich Rotz herankommen.
„Rotz! Nicht!“, brüllte Bert. Der Hühne blieb verunsichert stehen und drehte sich zu Bert um.
Ich bekam den Dolcharm hoch, holte aus, doch Graubein packte erneut meinen Arm, und versuchte, sich herumzurollen. Ich legte meinen Kopf in den Nacken, um meine Stirn krachend auf seiner Nase landen zu lassen. Er schrie und fluchte, doch seine Hand liess nicht locker. Mit seiner freien Hand packte er meine Haare und riss meinen Kopf nach hinten und zu Seite. Mit der anderen Hand, die meinen Unterarm noch immer umklammerte, drückte er nach, so dass wir herumrollten und er nun auf mir kniete. Er schloss seine freie Hand um meine, die den Dolch hielt und drehte sie herum, so dass die Spitze nun auf meinen Hals zielte und ich den Dolch nicht loslassen konnte.
„Hast Du geglaubt, dass ich mich so einfach umbringen lasse, Harry? Ja? Ich habe ein paar Hosen, die sind dreimal so alt wie Du, mein Junge!“, feixte er von oben herab, während sein Gewicht auf den Dolch drückte. Ich drückte mit beiden Armen dagegen. Trotzdem senkte sich die Spitze immer tiefer, und meine neu gefundene Kraft liess schnell nach.
Es ist seltsam, was einem durch den Kopf geht, wenn der Tod nur noch wenige Zentimeter vom eigenen Hals entfernt ist. Mein Gehirn begann, im Eiltempo sämtliche Erinnerungen zu durchsuchen, die das Blatt noch wenden könnten. Ich dachte an Szene aus einem ziemlich miesen B-Film, in der der Held in einer ähnlichen Situation steckte und mit einem völlig unrealistischen Trick… Ohne zu überlegen, hob ich mein Bein, immer höher, und schwang mein Fussgelenk vor sein Gesicht. Die Dolchspitze drang schmerzhaft in meinen Hals, und ich riss meinen Gegner mit einem Ruck zurück. Den Schwung nutzend, stiess ich mich mit meinem freien Arm ab, und stiess den Dolch nach unten. Graubein, überrascht, war nicht schnell genug, um meinen Arm abzufangen. Die Klinge drang fast bis zum Heft durch seine Brust, sein Herz, und ein Stück in die Decksplanke unter uns.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte er mich an.
„Du… Du weisst nicht…“, keuchte er. Dann sank sein Kopf nach hinten.
Ich hatte noch nie einen Menschen getötet. Kalter Schweiss brach aus meinen Poren, während ich voller Entsetzen von Graubeins Leiche weg kroch, schwer atmend, bis ich mit dem Rücken an das Podest stiess. Rotz stand einige Schritte neben mir, und schaute ratlos abwechselnd zu mir, zu der Leiche, und dann zu Bert.
In meinen Ohren klangen die Geräusche des Schiffes wie in einer Echokammer. Dunkelgraue Schlieren wanderten von der Peripherie meines Sichtfelds langsam zur Mitte, tunnelartig, flimmernd.
„Neuer Käptn…“, sagte jemand, der weit entfernt zu sein schien.
Ich sah, wie meine Beine vom Nebel umhüllt wurden, der immer höher kroch, eiskalt, Oberkörper und Arme einhüllte, und sich schliesslich als grauer Schleier über meine Augen legte. Dann wurde es dunkel.
Es war still. Ich wusste nicht, ob ich meine Augen geöffnet oder geschlossen hatte. Kein Geräusch und kein Lichtstrahl reizte meine Sinne. Oben und unten? Mein Verstand konnte nicht unterscheiden, ob ich still stand, mich drehte oder bewegte, oder überhaupt existierte. Ich hatte nur meine Gedanken. Bewegte ich meine Arme? Ich fühlte nichts! Weder Kälte noch Wärme drangen an meine Haut, von der ich nicht wusste, ob sie noch da war. Hatte ich noch einen Körper? War ich tot? War die Klinge am Ende doch so tief in meinen Hals gedrungen, dass sie etwas Lebenswichtiges verletzt hatte und ich gestorben war? Wenn das der Tod war, dann hatte ich schon jetzt genug davon!
„Harry!“
Die Stimme schien von überall zu kommen. Hatte ich Ohren? Hörte ich diese Stimme, fühlte ich sie, oder waren das nur meine Gedanken, die verzweifelt einen Reiz suchten, und durch eine Halluzination ihre Existenz rechtfertigen wollten? Würden am Ende auch sie verschwinden, wenn mein Verstand erkannte, dass es vorbei war, sich mein Selbst auflöste, weil ich tot war?
„Harry!“
Nein. Das war ganz eindeutig eine Stimme. Eine bekannte Stimme. Tony!
„Tony?“
„Du hast es getan! Du hast Graubein erledigt!“
Wo war ich? Wenn Tony hier war, war ich dann selber ein Teil der Ramanuja geworden, hatte sie genährt und würde jetzt eine Decksplanke oder irgendetwas anderes, lebloses werden? Hatte ich einen Fehler gemacht, als ich Graubein in seinem Ritual unterbrach, und war nun selbst zum Ziel geworden?
„Was geht hier vor, Tony?“
„Du hast Graubein getötet!“
„Ja. Das weiss ich, ich war dabei. Wo bin ich hier?“
„Du bist im Nebel.“
„Ich war die ganze Zeit im Nebel. Seit Du mich hier hineingezogen hast, Tony!“, sagte ich schroff. Ich war zornig. Das war nicht, was ich mir versprochen hatte. Ich wusste zwar nicht, was passieren würde, wenn ich Graubein getötet hatte, aber das hier hatte ich mir ganz und garnicht vorgestellt!
„Nein. Nein nein, das hier ist anders. Vorher war der Nebel um Dich herum. Du warst zwar im, aber trotzdem ausserhalb des Nebels.“ Ich verstand kein Wort von dem, was Tony mir da erzählte.
„Geht das etwas genauer?“
„Also… Es ist nicht so, dass Du ein Teil des Nebels bist, aber, Du… Ach, es ist schwer zu erklären. Du bist noch immer auf der Ramanuja. Aber irgendwie auch nicht. Ich weiss nicht, wie ich es Dir anders sagen soll, ich verstehe es selbst nicht.“
Ich verstand noch weniger. Dieser Ort, falls es überhaupt ein Ort war, machte mir Angst. Es war ungewohnt, ich hatte keinen Bezugspunkt, nichts, woran ich mich hätte festhalten, auf das ich mich hätte fixieren können. Es war, als würde ich in einen Abgrund stürzen, aber nichts davon merken. Nur das Wissen, dass um mich herum nichts war, das mich hätte tragen können. Keine Luft zum Atmen. Kein Boden, auf dem ich hätte stehen können. Nichts. Hier war nichts! Ich spürte, wie meine Gedanken sich langsam auflösten. Wie ich anfing, mich zu vergessen, wer ich war, woher ich kam, was ich wollte und welches Ziel ich hatte.
NEIN! Ich klammerte mich an meinen Namen. Harry! Ich war Harry! Handwerker, flexibler Tausendsassa und in der Lage, jedes Problem anzugehen, das sich mir stellte! Ich war ein Mensch, und ich war hier, egal, wo immer dieses „Hier“ auch sein mochte. Und nichts konnte daran etwas ändern, ob ich nun meiner Sinne beraubt war oder nicht. Ich war ich! Die Angst, die ich gespürt hatte, verschwand. Ich wollte hier raus, ich wollte zurück und mein Leben wieder haben.
„Harry?“
„Ich bin hier. Was passiert jetzt?“
„SIE wird kommen.“
„Wer?“
„Ramanuja.“
„Ramanuja?“
„Ja. Ich hab Dir doch erzählt, dass ich… Nein, dass SIE mit mir gesprochen hat.“
„Ich erinnere mich. Also sind wir jetzt da, wo Ramanuja ist?“
„Genau. Alle, die an Bord des Schiffs kommen, landen hier. Entweder durch dieses Gebräu, oder weil sie das Schiff nähren. Und dann verlieren sie sich.“
War es das, was ich gespürt hatte? Diese Verwirrung, das beginnende Vergessen?
„Was passiert mit denen, die sich hier verlieren?“, wollte ich von Tony wissen.
„Oh, ah, also, ich nehme an, sie werden ein Teil des Nebels. Aber genau weiss ich das nicht.“
„Also gut. Du weisst nicht genau, wo wir hier sind, und Du weisst nicht genau, was es mit dem Nebel auf sich hat. Kannst Du mir wenigstens sagen, warum DU hier bist?“
„Annähernd, hoffe ich. Wenn das Schiff genährt wird, dann bin ich freier. Meist bin ich mir meiner selbst nicht richtig bewusst, es ist wie ein tiefer Schlaf. Aber manchmal wache ich auf, kann mich bewegen. Es ist nicht so, dass ich gehen kann, ich treibe eher dorthin, wohin ich meine Aufmerksamkeit richte. Zu Dir, zum Beispiel. Oder zu Graubein, zu Bert oder sonstwo.“
„Aber Du bist ein Teil des Schiffs?“
„Teil von Ramanuja. Ich bin keine Planke oder ein Tau. Die Ramanuja ist nicht einfach nur diese Galeere. Sie ist eine Wesenheit, ein Etwas. Aber viel mehr weiss ich auch nicht, nur das, was ich aus den paar Gesprächsfetzen mitgekriegt habe. Und was Ramanuja mir gesagt hat.“
Noch mehr Fragen ohne Antworten.
„Hattest Du nicht auch gesagt, dass ich hier rauskomme, wenn ich Graubein umlege? Was ist damit? Ich stecke jetzt noch tiefer drin!“ Zorn. Ja, Zorn war gut. Zorn war ein geeigneter Anker, an dem ich mich festhalten konnte. Nicht Hass, oder blinde Wut, sondern Zorn. Der unbeugsame Wille, die eigene Situation zu verbessern. Das hatte mir schon früher geholfen.
„Ja, tut mir leid, ich…“
Meine Aufmerksamkeit wurde abgelenkt. Ein schwaches Leuchten, das ich nicht sah, sondern fühlte.
„Was ist das?“, fragte ich. Doch ich bekam keine Antwort.
„Tony?“ Nichts. Ich war wieder allein. Was hatte Tony gesagt? Seine Aufmerksamkeit dort hinrichten, wo ich hin will? Einen Versuch war es wert, und ich konzentrierte mich auf das Leuchten. Vielleicht war es ja das Ende des Tunnels. Oder der Zug, wie es in diesem sarkastischen Spruch hiess. Das Leuchten wurde heller, ich hatte das Gefühl, dass ich ihm tatsächlich näher kam. Noch heller. Gleissend. Aber nicht blendend. Dann umfing mich ein weisses Licht, alles war weiss und hell. Das genaue Gegenteil von dem, was vorher war.
„Du bist hier“, sagte eine Stimme. Es war kein Klang, den ich mit meinen Ohren hörte. Sie hatte keine Eigenschaften wie hoch oder tief, männlich oder weiblich. Sie war einfach da.
„Du bist gekommen. Zu mir. Zu Ramanuja.“
Ramanuja. Würde ich jetzt endlich Antworten bekommen? Ich hoffte es, hoffte darauf, zu erfahren, was das alles bedeutete, wie ich wieder zurückkehren konnte. Auch, wenn Graubein mir erzählt hatte, dass es kein Zurück gab, glaubte ich dem Piraten nicht. Warum sollte er mir verraten, ob es einen Ausweg gab? Er hatte mir selbst gesagt, dass er mir nicht vertraute. Und nun, da ich vielleicht Antworten auf meine Fragen bekommen würde, konnte ich keine einzige davon stellen. Meine Gedanken zerstoben in irrlichternen Funken, die von der Helligkeit verschlungen wurden.
„All Deine Fragen sollen beantwortet werden, Auserwählter.“
Auserwählter? Was war das schon wieder? Ich glaubte nicht an Prophezeiungen, die in dunkler Vergangenheit von blinden Weisen gemacht wurden, auch nicht an die Vorsehung oder sonstige Fäden spinnende, in leichte Kleidung gehüllte Frauen, die an einem Brunnen sassen. Aber hier, jetzt, sprach etwas zu mir, das mich als Auserwählten bezeichnete.
„Warum ich?“, fragte ich schliesslich.
„Lange habe ich auf jemanden gewartet, der stark genug ist, dem Nebel, dem Aurkari, zu widerstehen. Lange habe ich gewartet, wieder zu sein, was ich bin. Du, Auserwählter, wirst Dich dem Aurkari stellen und seinen Willen über mich brechen können.“
Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, was Ramanuja mir da gesagt hatte. Sie erwartete ernsthaft von mir, dass ich gegen den Nebel kämpfte? Ich sollte ihr Champion sein in einem Kampf, mit dem ich nichts zu tun hatte?
„Der Aurkari und ich waren die Wächter zwischen den Welten“, fuhr Ramanuja fort. „Wir trennten das, was nicht zusammenkommen darf. Wir füllten die Schalen des Gleichgewichts mit Licht und Schatten, wir waren Gegensatz und Gemeinsamkeit. Wir waren getrennt und doch eins, so wie die Seiten einer Münze eins sind, und doch nicht zusammen kommen. Geschaffen vom Kahohle in seiner Weisheit erfüllten wir unsere Aufgabe für Äonen. Doch der Aurkari wollte mehr. Wir schauten in die Welten und sahen die Wesen, die sie bewohnen. Wir sahen Glück und Schmerz, Hoffnung und Verzweiflung, und durften doch diese Welten nicht betreten. All dieses Erleben, das uns verwehrt blieb, begehrte der Aurkari. Und betrog Kahohle. Er betrat eine der Welten. Gestaltlos, wählte er den Weg der Geburt durch die Wesen, die diese Welt beherrschten, und wurde ihr Herr. Doch es reichte ihm nicht. Geblendet von weltlichem Erleben, schuf er eine Armee und nutzte seine Fähigkeiten, um andere Welten zu erobern. Alleine, des Aurkaris beraubt, konnte ich nicht verhindern, dass er verband, was nie hätte verbunden sein dürfen. Ich suchte verzweifelt nach Möglichkeiten, sein Tun zu beenden, ihn wieder zurückzuholen und die Fehler zu korrigieren, die er gemacht hatte.
Doch wehe, auch ich betrog Kahohle, wenn auch aus hehrer Absicht und im Glauben, in Kahohles Sinne zu wirken. Armeen schuf ich, um sie dem Aurkari entgegenzuwerfen. Furchtbare Schlachten verheerten viele Welten, und in meiner Unwissenheit über Leid und Freude, Schmerz und Wohlergehen brachte ich unendliche Qual über die Wesen, die ich in meine Armeen zwang. Lange Zeit kämpften wir, verehrt als Gottheiten, deren Ruf und Bekenntnis bald viele Freiwillige folgten, uns verherrlichten und in unserem Namen jene bekehrten oder töteten, die uns nicht folgten.
Und so füllten wir nicht mehr die Schalen des Gleichgewichts. Anstatt zu trennen, was nicht zusammenkommen darf, hoben wir Trennungen auf. Kahohle greift nicht in die Geschicke der Welten ein, und liess auch uns freie Hand. Am Ende jedoch legte Kahohle einen Bann auf uns, verband uns, kettete uns aneinander und liess uns das Leid, den Schmerz und die
Qual erfahren, die wir über andere gebracht hatten. In endlosem Kampf verfolgt mich seither der Aurkari, wahnsinnig geworden durch den Schmerz, er zwingt mir seinen Willen auf, gegen den ich mich erwehre, doch weder beherrscht er mich ganz, noch kann ich ihm ganz entfliehen. Wir sind nicht mehr das, was getrennt, und dennoch eins ist. Wir sind verbunden, aber uneins. Doch Kahohle ist nicht grausam, und liess uns die Hoffnung neben der Verzweiflung. Einen mussten wir finden, einen, der stark genug war, dem Willen des Aurkari zu widerstehen. Nur dann würden wir wieder frei sein, verbunden nicht mehr durch Ketten, sondern wie die zwei Seiten einer Münze. Getrennt, und doch eins.
Du bist gekommen.“
Die Worte wirbelten in meinen Gedanken wie die Flocken in einer Schneekugel, die man geschüttelt hatte. Es fühlte sich nicht richtig an. Ich konnte niemals der sein, für den diese Worte bestimmt waren. Sollte nicht ein grosser Held vieler heroischer Taten der Auserwählte sein, statt eines kleinen Handwerkers, der sich mit allem Möglichen über Wasser hielt?
„Ramanuja, ich… Ich bin nicht der Richtige dafür.“
„Du bist gekommen. Du hast dem Willen des Aurkari widerstanden, einmal. Du wirst ihm auch erneut widerstehen.“, versicherte sie mir. War Ramanuja überhaupt eine sie? Oder eher ein Etwas? Fragen ohne Antworten. Und es half mir nicht weiter, zu wissen, ob sie oder er oder es oder etwas ganz anderes. Ich drückte mich mit solchen Fragen nur vor einer Entscheidung. Und wenn ich schonmal hier war, tot oder lebendig, und kein Ausweg in Sicht, dann konnte ich genausogut etwas riskieren und sehen, wohin mich das führte. Ich war nicht in den verschiedensten Gewerken zu Hause, weil ich vor etwas Neuem zurückschreckte, was ich noch nie gemacht hatte und das mir fremd war.
„Was muss ich tun?“, fragte ich Ramanuja.
„Kehre zurück in die Welt, in der ich das Schiff bin, und der Aurkari der Nebel. Dort wirst Du das Lavasse trinken. Es ist der Trank der Einsicht, es ist das Wissen des Aurkari. Viele haben das Lavasse getrunken, doch bis auf wenige fielen sie alle unter des Aurkaris Einfluss und verloren sich, wurden zu den Trimér. Und selbst jenen, die stark genug waren, dem Aurkari nicht ganz zu verfallen, zwang er seinen Willen auf. Kehre zurück. Trink das Lavasse. Und wisse, was zu tun ist.
Doch sei gewarnt: Der Aurkari sucht einen Weg, das zu verhindern. Er beherrscht und manipuliert. Er dreht das, was ist, in sein Gegenteil.
Du bist gekommen. Nun musst Du wieder gehen.“
Mit diesen Worten begann das Licht zu verblassen, und ich war wieder allein im Dunkeln. Zum Schiff zurückkehren. Das Lavasse trinken. Wissen, was zu tun ist. Das klang nicht allzu schwer, oder?
Aber zuerst musste ich zum Schiff zurückkehren, nur wie? Hatte Tony nicht gesagt, dass ich noch immer auf der Ramanuja war? Aber irgendwie auch nicht? Und Ramanuja selbst sagte, ich solle in die Welt zurückkehren, in der sie ein Schiff war. Also konzentrierte ich mich auf das Schiff, auf Bert, auf Rotz, die Trimér…
Ich öffnete die Augen. Die Stichwunde an meinem Hals schmerzte. Vor mir stand Bert, Rotz sass auf einem Fass und bohrte in der Nase.
„Heeey, Harry. Hab schon gedacht, Du wärst auch hin, hmmm?“, sagte Bert, und kniete sich vor mich. „Wär doch schade, wenn wir keinen neuen Käptn bekämen, jaaa?“
„Das Licht am Ende des Tunnels war weder der Ausgang, noch der Zug“, stöhnte ich.
„Äh… Was? Hast Du zu viel Rum gesoffen?“
Ich stand mühsam auf, indem ich mich an dem Podest hochzog, und setzte mich. Die Augen schliessend, sagte ich: „Nein. Kein Rum. Nur etwas verwirrt.“ Dann machte ich die Augen wieder auf.
„Hmhm.“, machte Bert skeptisch, und hielt seine Hand vor mein Gesicht. „Wieviele Finger siehst Du?“
„Steuerbord“, antwortete ich.
„Meh.“ Bert schüttelte den Kopf und stand auf. Dann richtete er das Wort an die Trimér, die sich inzwischen an Deck versammelt hatten.
„Graubein ist tot. Harry hat ihn erschlagen. Der Tradition gemäss wird der, der den Käptn tötet, der neue Käptn sein. Vorher muss er aber das Lavasse trinken und sich würdig erweisen. Holt einen Becher mit dem Gebräu!“, befahl er.
„Hälst Dir besser die Nase zu, wenn Du das Zeug runterwürgst, heheh.“, sagte er zu mir gewandt.
„Ich hab Björns Burger gegessen, schlimmer kann das Zeug auch nicht sein.“
„Björns… Was? Du sprichst in Rätseln, Harry. Hast Du Dir den Kopf angeschlagen oder sowas, hmmm?“
„Nein. Ich habe mit Ramanuja gesprochen. Besser gesagt, sie mit mir. Ich bin eher weniger zu Wort gekommen.“
„Hmmm. Sie hat mit Dir gesprochen? Was hat sie gesagt?“
„Ziemlich viel wirres Zeug, hab nicht viel davon verstanden“, log ich. Sollte ich mich Bert anvertrauen? Ich war mir nicht sicher.
Er schaute mich nachdenklich an.
„Jaaa. Verstehe“, sagte er dann, und nickte mit einem wissenden Blick. „Vielleicht fällts Dir ja wieder ein, hmmm?“
„Vielleicht, ja. Mal sehen.“
Einer der Trimér trat auf Bert zu, und reichte ihm einen grossen Holzbecher.
„Ah. Also dann, Harry“, sagte Bert, und reichte mir das Lavasse.
Ich roch daran. Und wünschte mir sofort, ich hätte es nicht getan. Meine Augen begannen zu tränen, und meine Nase lief.
„Das soll ich trinken?“, fragte ich entsetzt.
„Hab Dir gesagt, halt Dir die Nase zu. Schmeckt aber nicht so schlimm, wie es riecht.“
„Wenigstens etwas.“
„Schmeckt noch schlimmer, weisst Du?“, sagte Bert, und grinste breit.
„Danke“, antwortete ich ihm, hielt den Becher weit von mir, und atmete dreimal tief durch. „Scheisse“, murmelte ich, und setzte den Becher an meine Lippen. Bert hatte recht. Das Zeug schmeckte noch schlimmer, als es gerochen hatte. Ich riss mich zusammen, dachte an irgendetwas, unterdrückte das Würgen in meinem Hals und trank den Becher aus. Schweiss stand auf meiner Stirn. Mein Magen drehte sich. Ich hustete und beugte mich nach vorne. Dann kippte ich von dem Podest, auf dem ich gesessen hatte, hielt mir den Bauch und wünschte mir, dass ich einfach sterben würde. Es fühlte sich an, als würden sich ein dutzend Messer in meinen Leib gerammt. In meinem Kopf dröhnte eine Stimme.
„Du bist mein! Mein!“
Niemals! Entgegnete ich in meinem Gedanken. Etwas überkam mich, Bilder von anderen Welten fluteten meine Gedanken, manche so bizarr, dass ich nicht begriff, was ich dort sah. Armeen krachten dröhnend aufeinander, der Lärm unendlich vieler Schlachten drang in meine Ohren, der Schmerz unzähliger gefallener und der Hass ganzer Völker aufeinander drohten, meinen Verstand zu zerfetzen. Trauer, Schmerz, Hass, orgiastisches Dürsten nach Blut, ekstatisches Morden und Todesangst schlugen gleichzeitig auf mich ein. Ich war Soldat, Söldner, Kriegsherr und Gefangener, Zivilist, siegreich, geschlagen, folternd und gefoltert, missionierte ich Ungläubige und brannte Dörfer, Städte, ganze Königreiche nieder. Ich steuerte futuristische Kriegsmaschinen und ritt auf Fabelwesen in Schlachten, die Jahrtausende andauerten und ganze Welten in Schutt und Asche legten. Ich spürte Reue. So tiefe Reue, dass es mich zu zerstören drohte, und ein verzweifelter, hasserfüllter Schrei hallte durch mein Denken. Und dann war es vorbei. Einfach so. Keine Schmerzen mehr. Keine Bilder. Nur noch meine eigenen Gedanken. Ich fühlte mich… Gut.
Als ich die Augen öffnete und aufstand, hatte sich meine Wahrnehmung verändert. Der Nebel war fort. Noch immer war der Himmel ohne Sonne oder Mond, und die Wellen spiegelten jene unsichtbare Lichtquelle wider. Ich sah mich um. Bert war noch immer Bert, auch Rotz war noch der gleiche Riese. Das Schiff jedoch… Das vorher stumpfe Holz schimmerte nun in einem silbernen Licht. Auch die Trimér waren keine missgestalteten Kreaturen mehr. An ihrer Stelle sah ich die Schatten der Wesen, die sie vorher einmal gewesen sein mussten. Die meisten humanoid, aber nicht menschlich. Einige hatten vier Arme, andere Flügel, und manche erinnerten an Amphibien, die auf zwei Beinen gingen.
„Harry? Alles in Ordnung?“, fragte Bert.
Ich antwortete ihm nicht, sondern schaute mir das Maul des Schiffs an. Die eingeritzten Runen, die vorher wie die stümperhaften Schnitzereien eines Teenagers aussahen, der seine Jugendliebe in einer Baumrinde verewigt hatte, waren jetzt prächtig anzusehen. Sie leuchteten in einem kräftigen Blau. Und ich konnte die Runen lesen.
„Am Munduaren Amaiera finde das Gleichgewicht im stürzenden Meer.“
„Harry?“ Berts Stimme wurde eindringlicher.
Ich drehte mich zu ihm um.
„Was bedeuten diese Worte?“, fragte ich ihn.
„Welche Worte? He, he, sag nicht, Du kannst das lesen? Noch nichtmal Graubein konnte das!“
„Doch. Ich kann.“
„Ah. Und was steht da?“
Ich las ihm die Worte vor. Er hob die Arme.
„Keine Ahnung, was das bedeuten soll.“
Da legte sich eine Hand auf meine Schulter, und jemand sagte: „Ich weiss es.“
Ich drehte mich um. Vor mir stand der Steuermann. Berts Augen wurden gross, er öffnete den Mund, machte ihn wieder zu, und schüttelte den Kopf. Auch Rotz machte grosse Augen und rutschte von seinem Fass. „Oi!“, machte er, und kratzte sich am Kopf.
„Munduaren Amaiera ist das Ende aller Welten. Dort stürzt das Meer in den Bezdan.“
„Den Bezdan?“, fragte ich nach.
„Der Bezdan ist der unendliche Abgrund. Ich weiss nicht, was dahinter liegt.“
Die Stimme des Steuermanns klang heiser, seine Worte kamen nur langsam.
„Ich dachte, Du redest nie und bleibst immer am Steuerrad stehen. Warum kommst Du jetzt zu mir und sagst mir das?“
„Es ist ein Kurs. Kein Käptn hat jemals einen Kurs angegeben.“
„Noch nie?“
„Nein.“
„Also seid Ihr immer nur geradeaus gefahren?“
„Nein. Wind und Strömung haben uns getragen.“
„Wozu dann ein Steuermann..?“, fragte ich verwirrt.
„Hierfür. Für einen Kurs.“
Das ergab zwar keinen Sinn, aber ich fragte nicht weiter nach.
„Ok. Aber woher kennst Du dann diesen Ort? Warst Du schonmal da?“
„Nein. Ich weiss es einfach. Ich bin der Steuermann.“
„Fragen ohne Antworten“, seufzte ich
„Auf viele Fragen gibt es keine Antworten“, sagte der Steuermann. „Nur auf die, die wirklich wichtig sind. Kurs auf Munduaren Amaiera, Käptn?“
Ich atmete tief ein.
„Kurs auf Munduariadingsda.“ Wer dachte sich nur solche Namen aus?
„Aye, Käptn!“, sagte der Steuermann, und ging zurück ans Ruder.
„Das ist neu, der hat sich noch nie bewegt oder was gesagt“, merkte Bert an. „Und er hat recht, Graubein hat nie einen Kurs gesetzt.“
„Wozu hatte er dann die ganzen Karten auf seinem Tisch?“
„Seh ich aus, als würd ich das wissen?“
„Nein. Ich glaube, ich werde mir meine neue Kabine mal ansehen.“
Ich liess Bert und Rotz stehen, und ging in Richtung Kapitänskajüte.
„Harry.“ Bert legte mir eine Hand auf die Schulter. „Du bist jetzt der neue Käptn, jaa? Nun frag ich mich, was wird unser neuer Käptn machen? Welchen Kurs wird er einschlagen?“
„Du hast doch gehört, wo es hingeht, Bert.“
„Ja ja, sicher. Aber das meine ich nicht, weisst Du? Ich meine, Graubein war ein ziemlicher Halunke, ein Pirat, und so hat er auch gehandelt, jaaa? Wir ham jeden Tag das Gleiche gemacht, so ziemlich. Aber Du, was bist Du? Was wird aus uns und wie soll’s weitergehen?“
Ich legte meinerseits den Arm auf Berts Schulter.
„Also, mein lieber erster Maat, um Deine erste Frage zu beantworten: Ich bin Handwerker. Ich baue Sachen und repariere sie. Und ich hasse es, jeden Tag das Gleiche zu tun.“
Berts Mundwinkel zuckten, und er bekam grosse Augen.
„Und wegen Deiner zweiten Frage, erster Maat, ich habe nicht weniger vor, als uns alle von diesem Irrsinn zu befreien. Ich werde nicht für den Rest meines Lebens und darüber hinaus auf diesem Schiff umher segeln und Fisch essen.“ Ich schaute zu Rotz. „Und Ihr? Was ist mit Euch? Gefällt es Euch hier an Deck? Jeden Tag die gleichen Gesichter, die gleichen dummen Sprüche und sonst nur Salzwasser und Nebel um Euch herum?“
„Oi! Neeee!“, rief Rotz. „Will ma wieder an Land, so richtig, mein ich, mit Kneipe und Prügeln und so!“
„Und Du, Bert?“
„Nun jaaa. Wie willst’n das anstellen, hmmm?“
„So, dass es funktioniert. Aber Du wolltest meine Frage beantworten, erster Maat.“
Zum ersten Mal sah ich etwas wie Unsicherheit in Berts Augen.
„Ääh… Yupp. Kneipe und Prügeln klingt gut, hmmm?“
Ich nickte zufrieden. Dann drehte ich um und ging in Richtung Heckkastell. „Gut. Ich gehe jetzt in meine Kabine.“
„Oi! Und was machen wir?“
Ohne stehenzubleiben, sagte ich über meine Schulter: „Was Euch Spass macht. Betrinkt Euch. Wir werden wohl länger unterwegs sein.“
„Oi! Höhö!“
Ich öffnete die Tür zu meinem neuen Reich und trat ein. Dann setzte ich mich, legte meine Füsse auf den grossen Tisch, verschränkte die Arme vor meiner Brust und schloss die Augen.
„Warum ich?“, sagte ich zu mir selbst, und seufzte. Was mochte am Munduaren Amaiera auf mich warten? Die Aussage des Steuermanns beunruhigte mich. Dort, wo das Meer in den Bezdan stürzt, den endlosen Abgrund. War das eine Metapher? Oder war es wirklich das Ende aller Welten, von dem die frühen Seefahrer glaubten, dass dort das Meer über den Rand der Welt ins Nichts stürzen würde?
Ich griff nach dem Krug, aus dem Graubein Rum eingeschenkt
hatte. Er war noch immer leer. Ich kippte die Nase des Krugs über einen der Becher, die auf dem Tisch standen.
„Erstaunlich“, sagte ich, als die goldbraune Flüssigkeit in den Becher floss. Ich schaute erneut in den Krug – leer. Dann nippte ich vorsichtig daran. Es war kein Vergleich zu dem scharfen Lackentferner, den Graubein mir angeboten hatte. Dieser Rum – war es überhaupt Rum? – schmeckte kräftig, aber angenehm.
Den Becher in der Hand, legte ich den Kopf zurück an die weiche Stuhllehne, hob den Arm und prostete der Tür zu, durch die ich gekommen war.
„Auf Dich, Tony, Du Arsch. Darauf, dass Du mich in diese Scheisse geritten hast und jetzt als Geist… Äh… Herumgeisterst.“
Und dann betrank ich mich entgegen meiner Gewohnheit. Und zwar ausgiebig.
Ich hatte mir die Karten auf dem Navigationstisch angesehen, konnte aber nicht sehr viel damit anfangen. Die Namen sagten mir nichts. Kurse waren abgesteckt, die nirgendwo hinzuführen schienen. Es fiel mir zuerst nicht auf und ich schrieb es meiner mangelnden Fähigkeit zu, Seekarten lesen zu können. Aber dann bemerkte ich es: Die gesteckten Kurse veränderten sich. Magische Seekarten, hm? Warum auch nicht. Neben einem leeren Krug, aus dem ich mir Rum eingiessen konnte, und Proviantfässer, die niemals leer wurden, waren Seekarten nichts Besonderes, die ständig einen neuen Kurs anzeigten.
Dann nahm ich mir die alten Logbücher vor, die in dem mit Holzschnitzerei verzierten Bücherregal standen. Die ältesten Bücher waren so vergilbt, dass ich die Schrift nicht mehr entziffern konnte. Meine Hoffnung war, mehr über Natur des Schiffes herauszufinden. Warum ich mich problemlos mit Bert, Rotz und Graubein hatte unterhalten können, obwohl sie mit Sicherheit nicht aus meiner Welt stammten. Und wenn doch, dann waren sie bestimmt keine Landsleute von mir. Einige der Logbücher der früheren Kapitäne waren durchaus interessant zu lesen. Sie erzählten Geschichten davon, was sie vorher gemacht hatten, wie es sie hierher verschlug. Von manch seltsamen Begegnungen mit Kreaturen erfuhr ich. Von Angriffen und den Gedanken, die den Schreibern durch den Kopf gingen.
Aus den Texten, die ich las, kristallisierte sich langsam ein Bild heraus, wie der Aurkari der Besatzung seinen Willen aufzwang. Jeder, der an Bord kam, musste das Lavasse trinken. Ich vermutete, dass die unglücklichen Wesen auf diese Art empfänglich für seine Gedanken gemacht wurden. Die Trimér waren dabei das willensschwache Fussvolk. Sie schienen nur phlegmatische Befehlsempfänger zu sein und zeigten kaum Eigeninitiative. Anscheinend besassen sie eine Art schwaches Kollektivbewusstsein, mehr wie ein Ameisenvolk, als eine Schiffscrew. Käptn, Steuermann, Maat und Bootsmann hingegen blieben sich ihrer selbst bewusst und erteilten Befehle. Nun, bis auf den Steuermann. Keins der Logbücher beschrieb ihn anders, als ich ihn die meiste Zeit erlebt hatte. Wortlos am Ruder stehend, nicht essend, nicht trinkend, nicht schlafend.
Nachdem ich mehrere der Logbücher gelesen hatte, fiel mir etwas auf, das mich zutiefst berührte und entsetzte. Die Aufzeichnungen über das, was die Kapitäne taten und dachten, wurde im Laufe der Zeit immer brutaler. Einige Kapitäne gaben sich anfangs Mühe, die Bedingungen auf der Ramanuja so erträglich zu machen, wie sie konnten. Doch dann entwickelten sie sich zu Tyrannen, zynischen Gestalten, die Freude daran hatten, Gefangene zu quälen.
„Der Aurkari beherrscht und manipuliert. Er dreht das, was ist, in sein Gegenteil.“
Diese Worte Ramanujas hallten durch mein Denken. War es Graubein ebenso ergangen? Ich hatte nur die letzten Einträge in seinem Logbuch gelesen, und es gleich wieder zugeklappt. Graubein war ein brutaler Psychopath gewesen, und ich wollte wirklich nicht noch mehr von ihm wissen. Dennoch las ich, was er geschrieben hatte.
Das Bild, das ich von dem früheren Graubein zeichnete, was das eines mitfühlenden Mannes, der sich um das Wohlergehen anderer sorgte. Natürlich machte er Gefangene, liess sie aber in einer der Kabinen am Bugkastell wohnen. Sein Verhalten änderte sich mit der Zeit. Er wurde grausam, kalt, und sperrte die Gefangenen, wie seine Vorgänger, in Käfige unter Deck. Und ich hatte ihn getötet! Hätte ich ihn retten können? Ich wusste nicht wie. Aber das machte die Last auf meiner Seele nicht leichter. Bis auf wenige Ausnahmen waren all diese Kapitäne, Maate und Bootsleute gute Männer gewesen, die durch den Aurkari korrumpiert wurden.
Und keiner von ihnen war je auf den Gedanken gekommen, gegen sein Schicksal anzukämpfen. War ich wirklich der Erste, der so widerstandsfähig gegen den dunklen Einfluss des Aurkari war, dass ich ihm nicht verfiel? Ich konnte mir auch nach der langen Zeit, die wir nun schon auf dem Weg zum Munduaren Amaiera waren, nicht vorstellen, so besonders zu sein. So willensstark. Ich fühlte mich überhaupt nicht besonders. Auch meine Rolle als Käptn war nichts, das mich grossartig berührte. Es war nur ein Titel für mich, ein hohles Amt ohne besondere Funktion. Ich gab kaum Befehle, und der einzige Kurs, den ich gesetzt hatte, war der zum Ende aller Welten. Zumindest sass ich nicht mehr in einem Käfig. Ich hatte genug zu essen und zu trinken, und statt einer Hängematte ein recht bequemes Bett. Und immer noch eine Menge Fragen ohne Antworten.
Bert und Rotz behandelten mich mit allem Respekt, der einem Käptn gebührte, was ich mir gerne gefallen liess. Wir tauschten Belanglosigkeiten aus, spielten Karten oder tranken zusammen Rum. Die wahre Natur der Beiden, warum das Schiff einen ersten Maat und einen Bootsmann brauchte, blieb mir jedoch unbekannt. Diese ganze Geschichte mit Mannschaft, Schiff, Lavasse und so weiter ergab nicht viel Sinn für mich. Andererseits, konnte ich die Massstäbe aus meinem früheren Leben hier gebrauchen? Himmel – mein früheres Leben! Hatte ich damit abgeschlossen? War ich so weit, dass ich mein Schicksal hier auf der Ramanuja und dem, was danach kommen mochte, einfach akzeptierte? Das durfte nicht sein. Ich wollte alles dafür tun, um irgendwann wieder mit Kollegen auf der Baustelle zu arbeiten, Witze auf Baubudenniveau zu reissen und am Ende des Tages sehen, was wir zusammen geschafft hatten. Hier, auf der Ramanuja, schien die Zeit stillzustehen. Es gab nichts zu tun, noch nicht einmal ein Stück Holz, das ich schnitzen konnte. Ich wusste nicht, wie lange ich das noch aushalten würde, ich, der ich die Abwechslung liebte. Der Rum half, diese endlose Zeit zwischen Aufwachen und schlafen gehen zu ertragen, auf Dauer war das jedoch keine Lösung. Hoffentlich dauerte diese Reise nicht mehr lange. Der Steuermann hatte nach unserem Gespräch, nachdem ich Graubein getötet hatte, kein weiteres Wort mehr gesprochen, und war auch nicht mehr vom Ruder gewichen. Ich hatte ihn gefragt, natürlich, mehrfach, wie ein kleines Kind auf der Rückbank im Auto. Ob wir bald da sind. Wie lange die Reise noch dauern würde. Ob wir mal anhalten könnten. Keine Antwort. Er blickte stur geradeaus zum Bug. Ich versuchte, ihm Befehle zu erteilen. Auch keine Reaktion. Ausserdem bemerkte ich eine Art Unwohlsein, sobald ich die Treppe auf das Heckkastell erklommen hatte, wo das Ruder war.
Bert und Rotz schien eine Art lähmende Unruhe ergriffen zu haben. Bert redete nicht mehr viel, lief herum, nahm etwas in die Hand, schaute es an, und legte es dann wieder weg. Rotz stand oft an der Reling und schaute auf das Wasser. Die Trimér hockten zusammengekauert zwischen Fässern, Tauen und Masten. Auch sie hatten sich verändert. Vielleicht war es aber auch einfach nur meine veränderte Wahrnehmung.
Ich hatte gleich zu Anfang die restlichen Gefangenen an Deck bringen, und die Käfige öffnen lassen. Sie reagierten nicht. Auch nicht, als ich ihnen sagte, dass sie sich nun frei an Bord bewegen könnten, und es keine abartigen Rituale mehr geben würde. Wie verängstigte Kaninchen, die die Freiheit nicht kennen und sich vor ihr fürchten, hockten sie in ihren Käfigen. Sie reagierten auch nicht, als ich ihnen Nahrung und Wasser anbot. Bert hatte mit verschränkten Armen und heruntergezogenen Augenbrauen am Mast gelehnt, den Mund missbilligend verzogen, hatte aber nichts dazu gesagt. Ich war der Käptn. Mein Wort war Gesetz, meine Tat nicht zu hinterfragen.
Zumindest war er froh darüber, dass wir keine Rituale mehr durchführten, das Schiff nährten oder Lavasse benutzten. Aber war er unzufrieden. Ich hatte ihn darauf angesprochen, warum er mich damals nicht verraten hatte, als er den Dolch an meinem Oberschenkel entdeckte, und mich ermutigte, Graubein zu erledigen.
„Hat mir nich gefallen, was da mit den Leuten gemacht wurde. War kein Spass, da mitmachen zu müssen. Hab den Piraten gegeben, ja. Wollte, dass sich was ändert, egal was. Aber rumsitzen und keine Aufgabe haben war nicht das, was ich wollte.“ Und damit war das Thema für ihn durch. Wenn ich es ansprach, wich er mir aus, oder sagte gar nichts. Das Schiff selbst wirkte leblos. Still. Fast verlassen. Bert und Rotz blieben meist unter sich, ich trank in meiner Kabine, oder wir standen an Bord, ohne einander zur Kenntnis zu nehmen. Bis auf die gelegentlichen Kartenspiele und den Rum hatten wir nicht viel miteinander zu tun. Ich fühlte mich allein. Isoliert. Und dachte nach. Über das, was Tony gesagt hatte. Und Ramanuja. Die Geschichte zwischen ihr und dem Aurkari. Das mystische Wirken des Kahohle. Aber ich kam zu keinem Ergebnis. Es führte nur zu noch mehr Fragen ohne Antworten.
Zuletzt begann ich, mein eigenes Logbuch zu führen und meine Geschichte aufzuschreiben. Meine Gedanken. Was ich mir von der Zukunft erhoffte, von der Reise zum Bezdan, und was dort vielleicht geschehen würde. Auch damit war ich irgendwann fertig, es gab nichts mehr, das ich noch hätte aufschreiben können. Diese Reise, so schien es, wollte kein Ende nehmen. Ebensowenig, wie der Rum, der aus dem leeren Krug in meinem Becher floss. Oder das Vorratsfass in meiner Kabine, das bald Fisch, bald Reis, Kartoffeln oder Obst enthielt. Die Absurdität, in der ich seit einer Ewigkeit lebte, war zu meiner Normalität geworden. Irgendetwas hatte ich übersehen. Irgendetwas, das diese Reise bis zum Ende der Zeit andauern liess. Der Steuermann gab mir keine Antworten. Bert war nicht schlauer als ich und ging mir aus dem Weg. Rotz antworte ohnehin nur mit „Oi! Höhö. Dumme Sprotten!“ Ich war ratlos.
„Wisse, was zu tun ist.“, hatte Ramanuja zu mir gesagt. Das klang einfacher, als es war. Ich hatte alles getan. Ich war zurückgekehrt in diese seltsame Wirklichkeit. Ich hatte das Lavasse getrunken. Unvorstellbares Leid war in kürzester Zeit über mich hereingebrochen, unvorstellbare Dinge hatte ich gesehen, der Aurkari hatte versucht, mich zu beherrschen, doch
ich widerstand ihm. Ich war jetzt Käptn der Ramanuja. Was blieb noch zu tun?
Ich zermarterte mir das Gehirn. Hatte mich der Aurkari am Ende doch besiegt und liess mich in dem falschen Glauben, ihm widerstanden zu haben? Liess er mich endlos über dieses seltsame Meer segeln, auf seine Chance wartend, mich zermürbend, bis ich aufgab? Oder drehten sich meine Gedanken einfach nur um den falschen Punkt, sodass ich blind für das Offensichtliche war? Mein Kopf war so voll mit Fragen ohne Antworten, dass nichts mehr ging. An diesem Punkt steckte ich einer Grube, aus der ich nicht heraus kam. Ich brauchte dringend eine Leiter. Und einen Becher Rum, um diese Ruhelosigkeit zu besänftigen.
„Wir müssen reden.“ Bert stand neben mir an der Reling, einen Arm auf das Holz gelehnt, den anderen in die Hüfte gestemmt.
Ich drehte mich zu ihm herum und erwiderte seinen Blick. „Ja, das denke ich auch.“
„Diese Reise dauert schon viel zu lange, hörst Du? Rotz ist das egal, der denkt nicht viel. Ist so strunzdumm, dass er ins Luv pisst, um sein Gesicht zu waschen. Aber ich werde wahnsinnig! Du hast einen Kurs gesetzt und wir kommen nicht an. Was wirst Du tun, Harry? Weiter in Deiner Kabine hocken und Dich besaufen?“
Mein Blick hielt dem Seinen nicht stand. Ich schaute nach unten.
„Was kann ich denn noch tun, Bert?“
„Woher soll ich das wissen? Du bist der Käptn, Du bestimmst, was passiert. Aber Du tust nichts. Garnichts! Du hast noch nicht mal ’nen Plan!“
Er schnaubte. „Pah. Ich hab keine Lust, ewig hier rumzuschippern. Das hätte ich auch mit Graubein haben können, aber da ist wenigstens noch was passiert, auch wenn’s mir nicht immer gefallen hat. Aber Du?“
Bert schüttelte den Kopf. „Lass Dir irgendwas einfallen. Sonst wachst Du bald mit ’nem Schlachtbeil zwischen Kopf und Schultern auf.“
„Bert, ich…“
„Ach, hör auf.“ Er dreht sich um und stapfte wütend davon.
Konnte ich ihm das durchgehen lassen? Ich fand nicht die Kraft, ihn zur Rede zu stellen. Und er hatte recht. Meine Zeit verbrachte ich mit Rum und Grübeln, versunken in Selbstmitleid und Verzweiflung. Ich war weniger als ein Schatten dessen, was Ramanuja in mir gesehen hatte. Zeitverschwendung. Aussitzen. Das war es, was ich tat. Weil ich nicht weiter wusste und darauf wartete, dass etwas geschah. Dass sich irgendeine Möglichkeit bot, die niemals kam. Hatte ich nicht gelernt, selber Möglichkeiten zu schaffen?
„Du bist der Käptn, Du bestimmst, was passiert.“ Berts Worte verfingen sich in meinen Gedanken. Konnte ich bestimmen, dass wir unser Ziel erreichten? War das die Lösung? Würde alles eintreten, was ich befahl? Ich hatte eine Idee.
„Bert!“, rief ich. „Komm her!“
Er blieb stehen. „Was denn?“, rief er über seine Schulter zurück.
„Du sollst hierherkommen!“
Widerwillig drehte er sich um, um kam provozierend langsam zu mir an die Reling.
„Sag nicht, dass Dir was eingefallen ist, Käptn.“, zischte er.
„Welche Befehle hat Graubein erteilt?“, fragte ich ihn, ohne auf seine zynische Bemerkung einzugehen.
„Wie? Was soll er schon befohlen haben? Anker werfen, Anker lichten, Segel setzen, an die Kanonen. Gefangene raufholen, Mannschaft aufstocken, Schiff nähren.“
„Aber er hat nie einen Kurs gesetzt? Bestimmt nicht?“
„Nein, nicht, solange ich hier bin.“
„Trotzdem seid Ihr immer irgendwo angekommen, ja?“
„Natürlich. Die Käfige haben sich nicht einfach so gefüllt, weisst Du? Wir haben Welten besucht, Anker geworfen, und jemanden an Bord geholt.“
„Und er hat nie mit dem Steuermann geredet?“
„Nein. Nie. Bei Dir wars das erste Mal, dass er überhaupt vom Ruder weg ist.“
„Weisst Du, warum?“
Bert überlegte. „Nee. Weil’s wohl eh keinen Sinn hatte, mit diesem stummen Fisch zu reden.“
Ich nickte. Wie konnte ich das die ganze Zeit übersehen haben?
„Gut. Danke für die Leiter.“
Bert schaute mich verständnislos an. „Was für ’ne Leiter?“
„Insiderwitz“, grinste ich, und stiess mich von der Reling ab, um zu meiner Kabine zu gehen.
„Du siehst aus, als hättest Du was vor!“, rief mir Bert hinterher.
Ohne mich umzudrehen oder langsamer zu werden, hob ich den Zeigefinger und sagte: „Exakt!“
Mein Dolch lag noch immer auf dem Tisch. Dort, wo ich ihn hingelegt hatte, nachdem wir Graubein an das Maul des Schiffs geklammtert und es genährt hatten. Jetzt nahm ich ihn in die Hand und betrachtete ihn. Der Steuermann. Er war nicht so nutzlos, wie ich gedacht hatte. Im Gegenteil. Ein Steuermann, der keine Befehle vom Käptn erhält oder ausführt, verfolgt seine eigenen Ziele. Und bestimmt, wohin die Reise geht.
„Der Aurkari zwingt mir seinen Willen auf“, hatte Ramanuja gesagt. Und wie sollte das besser gehen, als mit einem Steuermann, der das Ruder hält und keine Befehle befolgt? Er WOLLTE nicht, dass wir den Bezdan erreichten! Es war ein Trick des Aurkari. Er hatte mir ein paar Brocken hingeworfen, indem er zugab, den Weg zu kennen, weil er meinen Willen nicht brechen konnte. So wiegte er mich dem falschen Glauben, dass ich die Kontrolle hätte und wir dorthin segeln würden. Dass ich nichts weiter zu tun brauchte. Er hatte mich sprichwörtlich in den Schlaf gewiegt.
„Er beherrscht und manipuliert“, hatte Ramanuja gesagt. Oh ja.
„Er dreht das, was ist, in sein Gegenteil.“ Allerdings! Anstatt die Dinge in die Hand zu nehmen, hatte ich Bücher gelesen und mich mit Rum betrunken. Anstatt mit dem zu arbeiten, das ich hatte, grübelte ich über all das, was ich nicht hatte. Und anstatt Lösungen zu finden, war ich in meinen Problemen versunken.
Graubein hatte nicht einfach nur sinnlos Kurse abgesteckt und die Wand angestarrt. So wie ich mich auf das Licht Ramanujas, und dann wieder auf das Schiff konzentriert hatte, konzentrierte sich Graubein auf seine Ziele. Auf diese Art hatte sich auch Tony durch das Schiff bewegt.
Ich rammte den Dolch in die Tischplatte, fegte den Rumkrug beiseite und nahm mir erneut die Karten vor. Munduaren Amaiera. Der Bezdan. Ich konzentrierte mich so gut ich konnte auf diese Orte und blätterte durch die Karten. Und fand, was ich erwartet hatte. Dort, auf einem der ausgefransten Pergamente, las ich den Namen unseres Ziels. Klein, und ganz am Rand. Am gegenüberliegenden Rand war ein Kurs markiert. Ich war nicht überrascht, dass dieser Kurs nicht zum Bezdan führte. Sondern im Kreis. Das war es also. Der Steuermann gab den Kurs vor, und der Käptn konzentrierte sich auf das Ziel. Der erste Maat und der Bootsmann erledigten dann die Aufgaben, die dort warteten. Ja. Jetzt ergab alles Sinn!
Aber konnte der Käptn von dem vorgegebenen Kurs abweichen, oder würde der Steuermann das verhindern? Natürlich würde er das! Er stand am Ruder! Deswegen musste ich den Steuermann ausschalten. Entschlossen stand ich auf, und setzte mich wieder hin. Den Steuermann töten? Was wäre die Konsequenz? Was, wenn es ohne Steuermann nicht möglich war, unser Ziel zu erreichen? Und war der eine Tote, der mein Gewissen belastete, nicht schon einer zu viel?
„Verdammt!“, stiess ich hervor.
Vielleicht würde der, der den Steuermann tötete, ähnlich wie beim Käptn, dessen Rolle übernehmen müssen. Käptn und Steuermann gleichzeitig. Ging das? Ich dachte über die Alternative nach. Der Einzige, der mir einfiel, war Bert. Aber konnte ich ihm trauen? Nein. Ich musste davon ausgehen, dass jeder hier an Bord unter dem Einfluss des Aurkari stand. Sonst wäre jemand anderes Käptn und hätte das Schiff längst zum Bezdan gesteuert. Nein. Ich war allein. Und Tony war seit meinem Treffen mit Ramanuja nicht mehr aufgetaucht. Ich ging meine Möglichkeiten durch, und es waren sehr wenige. Den Steuermann am Leben lassen und riskieren, dass er meinen Plan zunichtemacht. Mich vielleicht sogar auf irgendeine Weise aus dem Weg räumte. Oder das Risiko eingehen, ihn zu töten und nicht zu wissen, was danach passierte. Der Teufel, den man kannte. Nun, manchmal war der Teufel, den man nicht kannte, die bessere Wahl. Mein Entschluss stand fest. Dolch. Steuermann. Herz.
Ich verbarg die Waffe unter meinem Hemd und trat auf das Deck. Eine Zeitlang lehnte ich an der Reling und beobachte den Steuermann. Regungslos, starr geradeaus blickend stand er hinter dem Ruder. Konnte ich wirklich noch einen Mann töten? Ich zweifelte. Was wäre, wenn..?
Nein! Wenn und Aber brachten mich nicht weiter. Ich hatte mich lange genug mit Fragen ohne Antworten aufgehalten und nicht von der Stelle bewegt. Also formulierte ich die Frage um. Konnte ich den Steuermann leben lassen? Die Antwort war Nein. Auch wenn ich mir nicht ganz sicher war – meine Schlussfolgerungen waren das Einzige, das Sinn ergab. Aber jetzt war keine Zeit mehr, meine Entscheidung zu hinterfragen. Ich ging die Treppe zum Heckkastell hinauf und stellte mich neben den ihn, als ob ich ihn mal wieder etwas fragen wollte. Ich öffnete den Mund, doch anstatt etwas zu sagen, stiess ich ihm die Klinge in den Rücken! Er zuckte zusammen und drehte den Kopf zu mir. Auch er öffnete den Mund, ein Röcheln entfuhr ihm, dann sank er still zu Boden. Sollte das jetzt wirklich so einfach gewesen sein? Ich schaute den Dolch an, den ich in meiner Hand hielt. Ein Blutstropfen fiel von der Spitze auf das Deck und zerplatzte in kleinere Tropfen, die ein rundes Muster auf die Planken malten. Vor mir lag der Steuermann. Reglos. Die Blutlache um ihn herum wurde grösser, und verschluckte den Tropfen, der von der Dolchspitze gefallen war. Es geschah – nichts. Keine Dunkelheit, die mich umhüllte, keine rachedurstige Kreatur erschien, und kein Blitz erschlug mich. Stattdessen schien sich irgendetwas weiterzubewegen.
Ich fühlte keine Erleichterung. Noch ein Toter, der Zweite, der auf meinem Gewissen lag. Ich seufzte. Dann rief ich Bert und Rotz.
Bert erstarrte, als er die Treppe zum Kastell hinaufgeklettert war. Sein Blick huschte vom toten Steuermann zu mir, und wieder zurück.
„Warum?“, fragte er kopfschüttelnd. „Wer steuert jetzt das Schiff?“
„Werft ihn über Bord“, sagte ich knapp. Einen Moment lang sah mich Bert verständnislos an, dann wandte er sich an Rotz.
„Los. Pack an, hast den Käptn doch gehört.“
„Oi!“
Ich schaute den beiden zu, wie sie den Toten über die Reling hoben und ins Meer fallen liessen.
„Höhö. Gute Reise!“, sagte Rotz, und trottete zurück in die Kabine.
Bert schaute noch eine Weile auf das Wasser, bevor ich sich umdrehte und mich ansah.
„Ob das ’ne gute Idee war, Käptn?“ In seiner Stimme lag kein Vorwurf, die Frage war ehrlich gemeint.
„Nein. Aber ihm das Ruder zu überlassen, war eine noch schlechtere Idee.“
Er kniff die Augen zusammen. „Wie meinst ’n das?“
„Er hat uns im Kreis gesteuert.“
Jetzt wurden Berts Augen gross.
„Verdaammt!“
Die Arme hinter dem Rücken verschränkt trat ich an die Reling und schaute auf das Wasser.
„Ich nehm mal an, Du hast ’nen Plan, wie wir das Schiff jetzt steuern, jaaa?“
„Allerdings.“
„Uuund?“
Ich drehte mich um und schaute ihn an. „Nichts und.“
Bert nickte langsam mit dem Kopf.
„Huh. Traust mir nich, hmmm?“
„Nein. Aber ich misstraue Dir auch nicht.“
„Wie geht das?“, fragte er verdutzt.
„Du hast mich nicht an Graubein verraten, als Du den Dolch entdeckt hast. Also gehe ich davon aus, dass Du auf meiner Seite stehst. Aber ich weiss nicht, wieweit Deine Loyalität reicht.“
„Mhm“, brummte er. „Versteh ich nich. Wirst schon wissen, was Du tust.“
Dann drehte er sich um und folgte Rotz.
Ich blieb noch eine Weile an der Reling stehen und schaute auf das Meer. Wusste ich wirklich, was ich da tat? Ich hoffte es.
Dann ging ich zurück in meine Kabine und untersuchte die Karte. Sie hatte sich verändert. Der gesteckte Kurs, der im Kreis geführt hatte, war verschwunden. Nur die Position der Ramanuja war noch markiert. Mit Lineal und Bleistift zog ich eine dünne Linie von unserer Position zum Munduaren Amaiera. Das war unser neuer Kurs. Und kein Steuermann würde ihn verändern können.
Was würde der Aurkari jetzt tun? Konnte er überhaupt etwas tun? Wenn ich Graubein damals richtig verstanden hatte, dann hörte die Crew bedingungslos auf den Käptn. Aber konnte der Aurkari die Besatzung auch direkt beeinflussen? Was war mit Bert und Rotz? Wie anfällig waren sie für die Manipulation und Herrschaft dieser mystischen Entität? Würde er versuchen, mich durch sie zu stoppen, würden Bert und Rotz die Mannschaft gegen mich aufhetzen? Ich hoffte, dass ich Graubeins Worte richtig gedeutet hatte. Zumindest konnte ich mich einige Male davon überzeugen, dass mein Befehl bei den Trimér über den Anweisungen von Bert und Rotz standen. Ich starrte auf meinen Becher. „Ach, scheiss drauf“, sagte ich leise, und schenkte mir Rum aus dem Krug ein.
Es war zu spät, um mir Sorgen zu machen, oder an meinem Plan zu zweifeln. Jetzt musste ich ihn durchziehen und hoffen, dass ich aus den Informationen die richtigen Schlüsse gezogen hatte. Ich nahm meinen Becher in die Hand, legte die Beine auf den Tisch und prostete der Wand zu. „Auf dass der Nagel hält!“
Mit einem langen Zug leerte ich den Becher.
Dann konzentrierte ich mich auf unser Ziel und hoffte erneut, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte.
Wie lange das Rauschen schon andauerte, bis ich es wahrnahm, wusste ich nicht. Auch nicht, wie lange ich hier gesessen und an unser Ziel gedacht hatte. Es musste lange gewesen sein, denn mein Rücken schmerzte, als ich langsam aufstand und wieder ins hier und jetzt zurückkehrte. Ich fühlte mich erschöpft, und mir war schwindelig. Dagegen half frische Luft, also öffnete ich eines der Fenster am Heck und atmete tief durch. Ja. Das tat gut. Durch das offene Fenster war das Rauschen deutlich zu hören, wie ein… Wasserfall? Das Ende aller Welten, wo das Meer in den Bezdan stürzt? Wir hatten unser Ziel also fast erreicht, und ich bekam eine Ahnung, was uns erwartete. Ich schloss die Augen, atmete noch einmal tief ein und wollte an Deck gehen.
Mein Blick fiel auf die mannshohe Vitrine. Für besondere Anlässe hatte Graubart gesagt. Wenn das hier kein besonderer Anlass war, was dann? Ich öffnete die Glastür. Stück für Stück zog ich Hose, Hemd, Rock und Stiefel an. Legte die Pistolengurte über meine Schultern, und den Gürtel mit Säbel und Messer um meine Hüften. Dann lud ich die Pistolen und steckte sie in die Laschen an den Gurten. Das Fernrohr in das Etui am Gürtel. Zuletzt setzte ich den Dreispitz auf und trat vor den Spiegel. Marineblau, besetzt mit Purpur, darunter ein weisses, sauberes Hemd. Ich nickte dem Piraten im Spiegel zu und schenkte mir einen letzten Becher Rum ein. Tief durchatmen. „Also los.“
Dann ging ich an Deck und zum Bugkastell. Bert stand dort und schaute in die Ferne.
„Aaaah, jaaaa. Jetzt biste wirklich der Käptn, hmmm?“
Er musterte mich von oben bis unten.
„Hol mich der Krake! So´n feinen Zwirn hat Graubein nie aufgetakelt, könnt´ meinen, Du willst jemand anseilen!“
„Anseilen?“
„Weisst schon. Paar Mädchen und so“, antwortete er und zwinkerte mir zu.
Ich grinste. „Haben wir etwa blinde Passagiere an Bord, von denen ich nichts weiss?“
Bert grinste zurück. „Sieht aus, als wären wir bald da, hmmm?“
„Ja. Wurde langsam Zeit, oder?“
Er war bei guter Laune und grinste noch breiter.
„Allerdings. Wollt´ schon anfangen, mir ’ne Hose aus Fischschuppen zu nähen.“
„Du stinkst auch so schon genug“, witzelte ich zurück. Er lachte.
„Schon ’ne Ahnung, was wir machen, wenn wir da sind?“
Ich zögerte. Ja, ich hatte eine Ahnung. Alles deutete darauf hin, dass die Ramanuja in den Bezdan stürzen würde und auf diese irgendwie alles wieder in Ordnung kommen würde. Der Aurkari verlor seine Macht über Ramanuja, die beiden fanden wieder zusammen und lebten glücklich und so weiter. Wenn dies das Ende dieses Albtraums bedeutete, würde ich alles tun, damit genau das geschah. Und das bedeutete auch, mir nicht in die Karten schauen zu lassen, auch nicht von Bert.
„Nein. In der Beschreibung stand leider nichts davon, was passieren wird.“
„Pah, Du und Deine Rätsel.“
„Hast Du schon irgendwas entdeckt?“
„Nee. Hab ´nen Trimér ins Nest geschickt, aber hat wohl auch noch nix gesehen“, informierte mich Bert.
„Hm. Was denkst Du, was uns dort erwartet?“
„Ah, keine Ahnung. Weiss nicht, was ich unter stürzendes Meer verstehen soll. ’n Wasserfall?“
„Möglich. Dachte ich auch schon.“
Bert zog die Augenbrauen zusammen.
„Ist gut, wieder was zu tun zu haben. Hab aber ’n komisches Gefühl dabei, weiss auch nich.“
„Ja, geht mir genauso.“ Mein komisches Gefühl hatte allerdings nichts mit dem zu tun, was dort vorne auf uns wartete. Der Gedanke an das stürzende Meer hatte mir anfangs Bauchschmerzen bereitet, aber ich hatte mich damit abgefunden. Die Alternative war nicht akzeptabel. Ewig im Kreis segeln, bis mich der Wahnsinn in einen irre kichernden Idioten verwandelte. Lieber die Unsicherheit des Bezdan, als die Gewissheit ewiger Verdammnis.
Mein Gefühl, dass etwas nicht stimmte, hatte mit Bert und Rotz zu tun. Wenn sie wirklich unter dem Einfluss des Aurkari standen, musste ich auf der Hut sein und mit allem rechnen.
„Na ja, wird schon schiefgehen“, sagte ich, und stellte mich so, dass Bert mich nicht ohne weiteres erreichen, und ich ihn im Auge behalten konnte. Ob ich ihm damit Unrecht tat oder nicht, ich wollte jedes Risiko ausschliessen.
„Wo ist Rotz?“, fragte ich, um das Gespräch in Gang zu halten.
„In der Kajüte. Trinkt Rum, wie immer. Wieso?“
„Hol ihn her.“
„Aye, Käptn.“
Als Bert gegangen war, tastete ich nach dem Dolch, den ich jetzt unter meinem Hemd am rechten Arm trug. Mit einer schwungvollen Bewegung liess ich ihn aus seiner Scheide in meine Hand gleiten, und schob ihn dann wieder zurück. Ich hatte den Griff mit einem Lederstreifen umwickelt und eine kleine Parierstange angebracht, damit er mir in einem möglichen Kampf nicht aus der Hand rutschte. Das Messer, das ich dem toten Trimér abgenommen hatte, trug ich offen an meinem Gürtel. Und ich hoffte, dass ich beides nicht benutzten musste. Zwei Tote waren mehr als genug.
Bert kam mit Rotz zurück.
„Was jetzt?“
„Rotz, Du löst den Trimér im Ausguck ab.“
„Oi! Ich soll ins Nest?“, fragte Rotz erstaunt. Auch Bert war überrascht.
„Käptn, soll der Mast abbrechen? Rotz ist viel zu fett dafür!“
„Los, hoch mit Dir. Ich traue den Trimér nicht, und Du hast gute Augen.“
„Die hab ich auch, Käptn!“
„Dich brauche ich hier unten. Los jetzt, Rotz. Schmeiss den Trimér aus dem Nest.“
„Oi! Käptn!“
Rotz stampfte davon.
„He, Rotz!“
„Oi?“
„Das mit dem Rausschmeissen war ein Scherz, er soll runterklettern, klar?“
„Oi! Höhö!“
Ich schaute zu, wie der Hühne in die Wanten kletterte, wobei die Webleinen bedenklich ächzten. Oben angekommen, scheuchte er den Trimér aus dem Nest, und zwängte sich selbst in den Mastkorb.
Ich wollte Rotz aus dem Weg haben, so weit weg von Bert, wie möglich. Sollten die Beiden irgendwas versuchen, wollte ich nicht gegen beide gleichzeitig kämpfen müssen.
„Und wofür brauchst Du mich, Käptn?“
„Du holst alle Trimér an Deck, wo ich sie sehen kann. Macht die Kanonen bereit. Und bereitet die Beiboote vor. Ich will ein Wasser- und ein Proviantfass an Bord haben, gut festgezurrt. Bestückt die Bordkiste mit Ersatzsegeln und Takelage. Dann passt Du auf, dass die Mannschaft keinen Unsinn macht.“
„Aye, Käptn.“, sagte Bert zögerlich. „Was hast Du vor?“
Ich zögerte, nahm den Dreispitz ab, fummelte am Schweissband herum, als ob mich dort etwas störte, und setzte ihn wieder auf. „Ich weiss nicht, was uns dort erwartet. Im schlimmsten Fall geht die Ramanuja sprichwörtlich den Bach runter. Dann sollten wir nicht mehr an Bord sein. Ich rechne auch nicht damit, dass uns der Aurkari einfach so entkommen lässt.“
„Du meinst..?“
„Möglicherweise lauert uns jemand auf. Ich weiss es nicht.“
„Schlauer Bursche, Käptn. Scheinst an alles gedacht zu haben, hmmm?“
„Los, an die Arbeit. Beeil Dich.“
„Aye, Käptn!“
Natürlich rechnete ich mit allem Möglichen. Vorallem wollte ich Bert beschäftigt wissen und ihn im Auge haben – mit gebührendem Abstand zu mir. Falls mir jemand zu nahe kommen wollte, dann würde ich ihn kommen sehen. Ich bildete mir nicht ein, die ganze Mannschaft aufhalten zu können, sollte meine schlimmste Befürchtung eintreten und die Trimér mich angreifen. Vom Bugkastell aus würde ich mich zumindest noch an der Ramanuja festklammern können, falls ich über Bord springen musste. Doch ich hoffte, dass es nicht so weit kommen würde und mein Befehl das Schlimmste verhindern konnte.
„Welche Götter mich auch hören mögen, sorgt dafür, dass diese Geschichte für uns alle gut ausgeht.“, flüsterte ich.
Das Rauschen war inzwischen so weit angeschwollen, dass es schwierig wurde, sich zu verständigen.
„He, Rotz“, brüllte ich durch meine Hände, die ich als Trichter um meine Lippen gelegt hatte.
„Oi! Käptn?“, brüllte er zurück.
„Irgendwas zu sehen am Horizont?“
„Oi! Nichts, Käptn!“
Ich war versucht, selber ins Krähennest zu klettern, oder zumindest auf eine der Rahen. Im Gegensatz zu Rotz und Bert behinderte der Nebel meine Sicht nicht mehr, und ich würde weiter blicken können. Aber ich blieb auf dem Bugkastell, und strengte von hier aus meine Augen an. Lag voraus nicht ein leichter Dunst über dem Meer? Ich zog mein Fernrohr auseinander. Ja. Dort war etwas. Winzige Wassertropfen glitzerten schwach in der Luft, und ich sah einige Felsen aus dem Wasser ragen. War das Munduaren Amaiera, das Ende aller Welten?
„Alles bereit, Käptn.“
Ich fuhr erschrocken herum. Bert stand vor mir, und ich hatte ihn unter dem Rauschen nicht kommen hören.
„Wir sollten den Anker werfen und nochmal alles überprüfen“, sagte er beiläufig. „Nur, um sicherzugehen, hmm? Die Mannschaft verhält sich ruhig.“
„Nein. Wir fahren weiter.“
„Wär wirklich besser, wenn wir…“
„Wir fahren weiter!“
Ein zögerliches „Aye, Käptn.“, und eine Hand, die wie zufällig in die Nähe des Säbelgriffs rutschte. Im Gegenzug legte ich eine Hand auf einen der Pistolengriffe, und schaute Bert herausfordernd an. Er grinste. Dann drehte er sich um und ging. Nach zwei Schritten wirbelte er herum, und ich konnte mich gerade noch zur Seite werfen, um dem Wurfmesser auszuweichen. Bert stürzte sich mit gezogenem Säbel auf mich. Ich zog die Beine an und trat nach seinen Knien, erwischt nur eines, brachte ihn aber immerhin zum Stolpern. Ich trat nach, versuchte, meinen Fuss unter sein Bein zu haken und ihn zu Fall zu bringen. Aber er wich mir aus und hieb mit dem Säbel nach meinem Fuss, den ich schnell zurückzog. Bert stocherte weiter nach mir, ich rollte mich herum und prallte gegen die Reling. Sein nächster Hieb zielte auf meinen Hals, ich kauerte mich zusammen und hörte, wie die Klinge ins Holz biss. Mich mit den Beinen von der Reling abstossend warf ich mich nach vorne und packte seinen Waffenarm, riss ihn zur Seite und drehte ihn dann um, während ich Bert nach vorne gegen die Reling stiess. Hinter mir hörte ich viele Schritte eilig die Treppe zum Kastell hinauf laufen. Ich drehte mich um. Einige der Trimér hatten Säbel in der Hand und stürmten auf uns zu. Doch warum? Um mich zu verteidigen? Oder…
Ich brüllte, so laut ich konnte. „Alle Mann ins Unterdeck!“, in der Hoffnung, dass der Befehl
des Käptns wirklich soviel galt, wie ich dachte. Tatsächlich blieb die Meute der Trimér stehen, und verzog sich wieder vom Kastell.
Von oben hörte ich jetzt allerdings Rotz mit lautem „Oi! Oioi!“ vom Mast steigen. Meine Zeit lief ab. Ein schneller Blick nach vorne zeigte mir, dass der schimmernde Dunst aus Wassertröpfchen näher gekommen war. Wesentlich näher! Und Bert griff mich erneut an. Sein Säbel zischte durch die Luft, ich konnte mich gerade noch wegducken und die Klinge trennte eine der Krempen des Dreispitz ab. Sein Knie erwischte mich an der Schulter, ich verlor das Gleichgewicht. Dann war er über mir, den Säbel zum Schlag erhoben. Ich hatte keine Chance, ihm auszuweichen. Doch Bert schlug nicht zu. Er zitterte. Und sagte: „Harry! Pack ihn!“
Ich schaute ihn verwirrt an.
„Harry, ich bin’s, Tony. Ich kann ihn nicht lange halten!“
Ohne zu überlegen sprang ich auf, packte Berts Waffenarm, drehte ihn auf seinen Rücken und drückte ihn erneut gegen die Reling.
Mit einem Schwung war der Dolch in meiner Hand, und ich setzte die Spitze an Berts Hals.
„Ich will Dich nicht töten.“
Bert war wieder er selbst und wand sich in meinem Griff. Er langte mit seiner freien Hand hinter sich, um mich irgendwo zu packen. Ich drückte seinen auf den Rücken gebogenen Arm weiter nach oben. Er keuchte vor Schmerz, versuchte jedoch weiter, mich zu erreichen. Keine Zeit dafür!
„Du lässt mir keine Wahl“, sagte ich leise, und stach ihm den Dolch in den Bauch, in der Hoffnung, ihn nicht lebensgefählich zu verletzen und nur kampfunfähig zu machen. Er fiel stöhnend auf die Knie und liess den Säbel fallen, den ich mit einem kräftigen Tritt vom Kastell auf das Haupdeck beförderte. Ich zog eine der Pistolen aus meinem Gürtel und schlug mit dem Griff gegen seine Schläfe. Bert sackte zusammen und blieb regungslos liegen.
„Danke Tony, wie auch immer Du das gemacht hast.“
Ich schaute zu Rotz. Er war mit einer Schnelligkeit die Wanten hinabgeklettert, die ich ihm nicht zugetraut hätte. Er stürmte über das Deck und die Treppe hinauf, um von einem Schuss in den Oberschenkel gebremst zu werden. Gebremst. Aber nicht gestoppt. Er humpelte auf mich zu.
„Oi, Du Sprotte! Zerquetsch Dich!“ Das war keine leere Drohung. Ich zog die zweite Pistole aus dem Gürtel und zielte auf sein Knie. Sein Bein brach weg, und er fiel der Länge nach hin. Er stützte sich auf seine Ellenbogen, und schaute genau in die Mündung meiner vorletzten Pistole.
„Oi!“
„Denk nicht mal dran, Grosser.“, sagte ich. Leider hörte er nicht, und schlug nach der Waffe. Ich ging einen Schritt zurück und zielte auf seine Schulter. Als ich abdrückte, klickte der Hahn auf das Zündplättchen, aber der Schuss löste sich nicht. Rotz stiess sich mit seinem unverletzten Bein ab, und versuchte, mich zu packen. Ich trat zurück, stolperte jedoch über Bert und fiel auf den Rücken. „Ungeschickter Narr“, schalt ich mich selbst. Ich riss die letzte Pistole aus meinem Gürtel, richtete sie auf Rotz, der nun fast über mir war, und drückte ab. Sein Kopf flog nach hinten, und auf seiner Stirn erschien ein roter Punkt. Schwer fiel er auf die Planken vor meinen Füssen, die ich schnell unter ihm wegzog. Blut floss aus dem Loch in seinem Kopf, und er rührte sich nicht mehr.
„Oh nein!“, keuchte ich. Das war nicht meine Absicht gewesen. Ich kniete mich neben ihn und fühlte nach seinem Puls. Nichts. Sein Leben war das Dritte, das ich auf der Ramanuja genommen hatte. Ich setzte mich und schüttelte fassungslos den Kopf. Tränen zeichneten feuchte Linien auf meine Wangen. Rotz mochte ein grobschlächtiger Dummkopf gewesen sein und hätte mich zermalmt, wenn ich ihm die Gelegenheit dazu gegeben hätte. Aber seinen Tod hatte ich nicht gewollt.
„Rotz“, hörte ich Berts Stimme neben mir. Er war wieder bei Bewusstsein und kroch nun auf seinen Kameraden zu. Auch er hatte Tränen in seinen Augen.
„Rotz. Nein!“
Auch, wenn Bert versucht hatte, mich zu töten, ich fühlte mit ihm. Sein Freund war tot, und ich hatte ihn erschossen. Ich stand auf und presste die Lippen zusammen. Das Rauschen war mittlerweile so laut geworden, dass meine Ohren dröhnten. Als ich nach vorne schaute, war aus dem Dunst eine schillernde Wand geworden, der wir uns schnell näherten. Und unter dem schillernden Schauspiel stürzte das Meer in den Abgrund. Mir blieb nicht mehr viel Zeit.
„Alle Mann an Deck!“, brüllte ich, während ich über das Deck zum Ruder lief.
„Die Beiboote klarmachen zum Ablassen!“
Als ich das Heckkastell hinauf sprintete und das Ruder herumriss, um einem der Felsen näherzukommen, waren die Trimér schon dabei, die Boote über die Reling zu hieven.
Ich rannte zurück zu Bert und befahl zwei der schattenhaften Kreaturen, mir zu helfen, ihn in eines der Beiboote zu legen. Er stöhnte laut und war sehr blass. Wir liessen die Boote zu Wasser, und ich gab den Befehl, das Schiff aufzugeben und sich auf die Felsen zu retten. Wie es dann weiterging, wusste ich nicht. Nachdem auch der letzte Trimér das Schiff verlassen hatte, kletterte ich an der Bordwand in das Boot zu Bert hinunter, löste die Seile, die es noch mit der Ramanuja verbanden, und stiess uns ab. Die Strömung trieb uns weiter auf den Abgrund zu. Ich ruderte verzweifelt dagegen an, um einen der grösseren Felsen zu erreichen, der auf der abgewandten Seite des Wasserfalls eine Höhlung hatte, die eine Art natürlicher Anlegestelle bildete. Das wurde verdammt knapp! Unser Boot näherte sich dem Felsen zu schnell, schneller, als ich es auf ihn zurudern konnte, und dahinter war nichts mehr. Kein Felsen, den ich noch hätte erreichen können. Ich legte mich hart in die Riemen, ruderte mit aller Kraft und so schnell, wie ich konnte. Meine Schultern schmerzten, doch meine Hände umklammerten die Ruder und zogen durch.
Gleich.
Gleich.
Das Boot prallte mit dem Bug gegen die Seite des Felsens, wurde herumgerissen und schrammte mit dem Heck voran an dem rauen Stein auf den Wasserfall zu. Ich krallte meine Finger in die raue Oberfläche, rutschte ab, bekam einen Spalt zu fassen und klammerte meine Finger um scharfkantiges Gestein. Vor Schmerz laut aufheulend packte ich mit der anderen Hand das Boot und schaute in Richtung des Wasserfalls. Die Ramanuja trieb nun immer schneller von uns weg, begann sich zu drehen, schrammte mit dem Kiel auf Grund, neigte sich zur Seite, und stürzte in den Abgrund. Ich sah einige Trimér, die ebenfalls hinabgespült wurden, gefolgt von einem der Beiboote. Was aus den Anderen geworden war, ob die restlichen Beiboote und Trimér sich retten konnten, bekam ich nicht mehr mit. Die Strömung zerrte an unserem Boot, und meine Finger verloren ihre Kraft. Ich konnte das Boot nicht länger halten, die Reling glitt durch meine Finger, und das Boot trieb unter mir weg. Dann verhedderte sich mein Fuss in einem Seil, und der Ruck riss mich vom Felsen los. Nur ein wenig Haut blieb zurück. Ich fiel neben Bert auf das Holz, erschöpft, mit blutenden, zerrissenen Fingern.
Bert drehte den Kopf und sah mich an. Er war leichenblass, klebriger Schweiss bedeckte seine Stirn.
„Warst nicht der beste Käptn. War mir trotzdem ’ne Ehre.“
Ich hob den Kopf über die Reling. Mit weit aufgerissenen Augen sah ich, dass nichts mehr zwischen uns und dem Abgrund stand.
„Hast Dein Bestes gegeben, hmmm?“
Das Boot schrammte über einen Felsen, der unter Wasser lag, und stoppte. Ich keuchte.
„Jetzt sind wir endlich frei…“
Mit einem lauten Knirschen drehte sich unser Boot.
„…von diesem scheiss Nebel…“
Wir trieben die letzten Meter zu dem gigantischen Wasserfall.
„…und dem verdammten Schiff…“
Der Bootskiel schob sich über den Rand.
„…und grausamen Ritualen.“
Bert legte mir eine blutverschmierte Hand auf die Schulter.
„Danke, Käptn.“
Unsere Nussschale kippte und stürzte hinab.
„Wir sehn´ uns auf der anderen Seite, Harry.“
Dann verblasste das Ende aller Welten, und der Bezdan verschlang uns.
Ich stand auf der Strasse. Die Sonne schien, es war warm und ich hielt eine Zigarette in der Hand. Hinter mir klapperte ein Blech im Motorraum meines Autos. Das kleine Loch im Auspuff röhrte leise vor sich hin.
„Was zur Hölle..?“, fragte ich ungläubig, und sah mich um. Vor zwei Sekunden lag ich noch in einem Boot, während der tödlich verletzte Bert seine letzten Worte sprach und wir in den Bezdan stürzten. Jetzt stand ich hier, an der gleichen Stelle, an der ich in der plötzlich aufgetauchten Nebelbank angehalten hatte. War das eine Art Traum gewesen?
Verwirrt zog ich an meine Zigarette und bekam einen Hustenanfall. Ich spuckte aus.
„Bäh. Ekelhaft“, sagte ich zu mir selbst, und trat die Kippe auf dem heissen Asphalt aus.
Ich betrachtete meine Hände. Kein Blut, keine Abschürfungen. Nichts deutete darauf hin, dass ich eben noch…
„Hey man, danke fürs Anhalten.“
Erschrocken fuhr ich herum. Ein Mann kam am Strassenrand auf mich zu gelaufen. Ich kannte diesen Mann.
„Tony?“
Er blieb stehen. „Was?“, fragte er verdutzt.
„Tony! Wie bist Du..? Was machst Du hier?“
„Ähm. Kennen wir uns?“
Ich zögerte. Erinnerte er sich nicht? Oder war das alles doch nur ein seltsamer Traum gewesen?
„Äh, sorry. Sie sehen jemandem, den ich kenne, sehr ähnlich.“
„Und der heisst Tony?“
„Ja.“
„Ha! So ein Zufall. Ich auch“, lachte er.
Ok. So ein Zufall, allerdings.
„Tja, was es nicht alles gibt“, sagte ich, um nicht wie ein verwirrter Narr auszusehen. „Ich heisse Harry. Wo soll’s denn hingehen, Tony?“
„Nur bis zur nächsten Stadt. Wir können uns auch gerne duzen.“
„Alles klar, Tony. Steig ein“, sagte ich. War er es? Ich war mir sicher!
Der Anhalter stieg auf der Beifahrerseite ein, und ich liess mich in den Fahrersitz fallen. Prompt klappte die Sonnenblende herunter. Ich klemmte sie wieder fest und verstellte dabei den Rückspiegel, dessen Halterung ebenfalls dringend erneuert werden musste. „Morgen“, dachte ich. „Morgen mach ich ’nen Termin in der Werkstatt und…“
Ich erstarrte. Im Spiegel sah ich unter meinem aufgeknöpften Hemd einen Teil meiner Brust. Und meinen Hals. Dort, auf der rechten Seite, direkt neben meiner Kehle, eine vierkantige Narbe, die vorher nicht dagewesen war.
An genau der Stelle, an der mir Graubein in unserem Kampf den Parierdolch ins Fleisch gestossen hatte.
„Oh. Seltsame Narbe. Wie ist das passiert, wenn ich fragen darf?“
„Hm. Ziemlich lange und verrückte Geschichte“, antwortete ich lächelnd, und fuhr los…
Anhang
Über die Namen in dieser Geschichte
Die Namen und Bezeichnungen in dieser Geschichte habe ich mir nicht ganz selber ausgedacht. Stattdessen habe ich die deutschen Wörter in verschiedene Sprachen übersetzt und mal mehr, mal weniger verändert oder auch abgeschnitten. Ich habe für jedes Wort mehrere Sprachen ausprobiert und die für mich klangvollsten Namen gewählt.
Ramanuja
Dies ist, so dachte ich zumindest, das einzige Wort, das auf meinem Mist gewachsen ist. Es war plötzlich da, als ich den Namen des Schiffs brauchte. Im Nachhinein habe ich herausgefunden, dass Ramanuja ein indischer Philosoph und Lehrer war, der ca. 1050 – 1137 n. Chr. lebte. Er begründete das Vishishtadvaita, eine modifizierte Version des Monismus, der alle Phänomene, die wir beobachten, auf eine einzige Ursache zurückführt. Interessant ist, dass Ramanuja u. a. der Ansicht war, dass die Seele nicht gottgleich sein kann, aber dennoch ein Teilchen Gottes ist, was sich mit meinem eigenen Weltbild deckt. Nämlich dass jedes einzelne Individuum Gott ist, der sich durch uns erlebt. Was für ein Zufall!
Lavasse
Dieses Wort habe ich aus dem Französischen geklaut. Es bedeutet soviele wie Plörre, oder dünne Brühe. Eigentlich ist dieses Wort nicht ganz richtig, denn das Lavasse ist keine dünne Brühe! Eher ein reichhaltiges, dickflüssiges Gebräu, übelriechend und noch übler schmeckend. Das französische Wort für Gebräue wäre „Brasser“, gesprochen „Brasse“, was mir rein vom Klang nicht zusagte. Lavasse hingegen wird „Lavass“ ausgesprochen, was mir wesentlich besser gefallen hat.
Trimér
Auch dieses Wort ist aus dem Französischen und bedeutet „schuften“. Den Akzent über dem é habe ich dazugedichtet. Ohne würde dieses Wort „Trimöhr“ ausgesprochen. Mit dem Akzent klingt es ganz anders, nämlich „Trimär“, aber mit „weichem“ ä.
Kahohle
Dieses Wort bedeutet „Allumfassend“ und kommt aus dem Sesotho. Diese Sprache ist eine Bantusprache, sie stammt aus Ostafrika und wird in der Republik Südafrika und Lesotho gesprochen.
Aurkari
Das Wort „Aurkari“ stammt aus dem Baskischen und bedeutet „Gegner“.